Was hat unser Empfinden von Zeit mit gesellschaftlichen Normen zu tun? Wie können wir diese Normen erkennen? Das Konzept der Crip Time wurde in den Disability Studies geprägt und sucht Antworten auf diese Fragen. Es fokussiert eine Sichtweise von Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen auf Zeit. Dabei werden individuelle Zeitlichkeiten anerkannt und etablierte Strukturen der Normzeit unter die Lupe genommen.

Die gesellschaftliche Normierung der Zeit

Zeit war nicht immer einheitlich – nicht einmal in einzelnen europäischen Ländern und Landstrichen. So wurden beispielsweise in Frankreich die Uhren regional nach der Sonne gestellt. Verschiedene französische Regionen hatten demnach ihre eigenen lokalen Zeiten, die auf dem Sonnenstand, einer chronologischen Zeitauffassung unabhängig vom Menschen, basierten. Erst mit dem Aufkommen des Eisenbahnverkehrs sorgten die dadurch entstehenden Zeitunterschiede für Betriebs- und Kommunikationsprobleme. 1891 wurde dann die „Heure de Paris“ (Paris Mean Time) eingeführt – und somit eine nationale Zeitrechnung ausgehend von Paris, eine neue zeitliche Norm.

Die Einführung der Pariser Zeit markierte einen einzelnen Schritt unter vielen, die zur Rationalisierung und Standardisierung gesellschaftlicher Abläufe führten. Dabei wurde Zeit zunehmend als kostbare Ressource betrachtet, die es zu nutzen galt, um wirtschaftlichen Erfolg zu erzielen.

Bis heute entfaltet diese Perspektive auf Zeit in der Gesellschaft eine starke Wirkung. So sollen uns Zeitmanagement-Tools dabei helfen, produktiv und effizient zu sein. Wo Zeit früher – wenn überhaupt – durch Institutionen geregelt wurde, erfolgt dies nun auch durch Individuen: Sei es die minutengenaue Angabe von Liederdiensten dazu, wann eine Lieferung ankommt, oder Handlungsempfehlungen von Arbeitgeber:innen darüber, wie eine Arbeitspause besonders effizient genutzt werden soll.

Welche Perspektive bietet „Crip Time“?

Die zunehmende Normalisierung und Kontrolle individueller Zeitnutzung ist heute jedoch immer stärker der Kritik ausgesetzt, die den vermeintlichen Vorteil solcher Technologien in Frage stellt. Dabei werden die vielfältigen Formen der Selbstoptimierung, die durch Technik und gesellschaftliche Erwartungen befördert werden, mehr und mehr auch als Belastung diskutiert.

Viele kennen den gesellschaftlichen Druck, ständig produktiv und effizient zu sein, was zu Stress, Burnout und einem Gefühl der Entfremdung von der eigenen Zeit führen kann – und selbst die freie Zeit noch minutengenau eingeplant werden soll. Ein Ansatz aus der Disability-Rights-Bewegung geht diesen Zeitnormen aus der Perspektive von Menschen mit Behinderungen entgegen. Die sogenannte „Crip Time“ wurde von der Disability-Rights-Aktivistin und Autorin Ellen Samuels geprägt.

Was bedeutet „Crip“?

Der Begriff „Crip“ ist eine Neuinterpretation des Begriffs „crippled“ („verkrüppelt“/behindert) und wird von Mitgliedern der Behindertengemeinschaft als identitätsstiftender Begriff verwendet. Es stammt aus der Disability-Rights-Bewegung und wird als politischer Akt der Umkehrung und Neudefinition des Stigmas rund um Behinderung betrachtet. Somit soll einerseits auf die Probleme der zugewiesenen Identität als behinderte Person aufmerksam gemacht werden. Gleichzeitig wird aber auch diese Identitätskonstruktion selbst in Frage gestellt. (Quelle: Claudia Allick, CRIP as Disability Terminology)

Crip Time stellt die nichtbehinderte Perspektive auf Zeitnutzung grundsätzlich in Frage. Alison Kafer formuliert es in Ihrem Buch „Feminist, Queer, Crip“ so:

Rather than bend disabled bodies and minds to meet the clock, crip time bends the clock to meet disabled bodies and minds.

Alison Kafer (2013)

Welche Zeitnormen hinterfragt die Crip Time?

Diese jeweiligen Zeitlichkeiten können sich über verschiedene Kalender und deren Inhalte hinweg von der kleinsten Zeiteinheit bis hin zu ganzen Lebensabschnitten unterscheiden. Im Kleinen kann es heißen, dass mit manchen chronischen Erkrankungen nicht vorausgeplant werden kann, weil beispielsweise die eigene Tagesform oder der Verlauf der Erkrankung nicht absehbar sind. Dann ist es sinnvoller, kleine Zeiteinheiten über den Tag zu finden, die man für sich nutzen kann.

Eine eigene Zeitlichkeit kann aber auch bedeuten, dass man mit Mitte 30 bereits über Verluste spricht, die Menschen sonst eher in der Zeit nach der Rente betreffen – und sich plötzlich in der Situation zu befinden, die einzige junge Person zu sein, die über diese Erfahrung sprechen kann. Ellen Samuels (2017) berichtet in ihrem Artikel „Six Ways of Looking at Crip Time“ darüber: Ganze Lebenspläne verschieben sich und sie ist nicht mehr auf dem gleichen Zeitstrahl wie die Mehrheitsgesellschaft. Die Konsequenzen können fragile Freundschaften sein, die oft auf synchronen Meilensteinen im Leben basieren, oder unsichere Arbeitsverhältnisse.

Crip Time drückt also aus, wie ganze Lebensabschnitte eine gewohnte Linearität verlieren. Samuels schreibt dazu:

Crip Time ist eine Zeitreise. Behinderung und Krankheit haben die Macht, uns aus der linearen, progressiven Zeit mit ihren normativen Lebensabschnitten herauszuholen (…). Einige von uns haben mit den Beeinträchtigungen des Alters zu kämpfen, während sie noch jung sind; andere werden wie Kinder behandelt, egal wie alt sie werden.

Ellen Samuels (2017, übersetzt)

Crip Time bietet eine Gegenposition zur linearen und normativen Auffassung von Zeit in der Gesellschaft. Die festen, ableistischen Normen über Zeit reichen über einfache Wörter hinweg bis in den Alltag. Unter der Perspektive der Crip Time müssen zeitliche Konzepte und ihre dahinterstehenden Annahmen überdacht werden. So ist es dann z.B. durch Barrieren in der Mobilität notwendig, ein anderes Verständnis davon zu entwickeln, in welchem Zeitfenster und wie man sich trifft.

Ohnehin haben Menschen infolge einer Behinderung oder chronischen Erkrankung oft wenig Zeit. Die Terminkalender füllen sich mit den gesellschaftlichen und persönlichen Strukturen des Umgangs mit der Behinderung: –  sei es, weil die Rentenkasse wieder etwas will, ärztliche Termine notwendig sind oder Spezialist:innen gewisser Krankheiten aufgesucht werden müssen, die eine Zugfahrt erfordern.

Auswirkungen der Normzeit

Die Normzeit kann somit auch letztendlich zur weniger greifbaren und doch sehr realen Barriere werden. Kommt man zu spät zu einer Theatervorstellung, kann die Tür schnell erstmal dauerhaft geschlossen bleiben. Die unsichtbare Barriere zusätzlich zur Tür ist hier die Zeit. Doch Barrieren können noch viel gravierender sein: Auf dem Arbeitsmarkt herrscht eine rigide Vorstellung davon, wann und wie zeitlich gearbeitet wird, um eine gewisse Tätigkeit erbringen zu können. Dabei kann mit anderer Verwendung von Zeit oder anderen Arbeitsabläufen oft dasselbe Ergebnis erzielt werden.

Doch das Konzept der Crip Time bietet nicht nur eine andere Perspektive auf eine ableistische Gesellschaft. Es kann auch den Umgang mit Zeit und dessen gesundheitliche Folgen unmittelbar aufzeigen. Um Beispiel mit der Idee des „Pacing“. Dahinter steht die Einsicht, dass die Zeit, die der Körper zur Regeneration braucht, notwendig und nicht regulierbar ist. Im Gegenteil: Die Normvorstellung, den Körper nach einer gewissen Anzahl an Stunden wieder einsetzen zu können, kann sogar schädlich sein. Viele Menschen, die am Chronischen Fatigue Syndrom (ME/CFS) leiden, dass sie fortwährend müde macht, haben einen langen Weg hinter sich, um überhaupt zu ihrer Diagnose zu kommen.

Was ist „Pacing“?

Pacing ist eine bewährte Strategie für Menschen mit bestimmten chronischen Erkrankungen, um ihre Energien im Blick zu behalten und Symptome zu kontrollieren. Entwickelt wurde das heutige Pacing von ME/CFS-Forschenden und -Erkrankten in den 1980er-Jahren, federführend von der Wissenschaftlerin Ellen Goudsmit. Anders als bei anderen Erkrankungen ist in diesem Kontext der Antrieb nicht das Problem. Dinge wollen erlebt und umgesetzt werden – doch es kommt leicht zu Überlastungen. Der Versuch, sich diesen Normen anzupassen, kann zur Verschlimmerung von Symptomen führen. Pacing bedeutet dann: Man lernt die eigenen Kapazitäten und Belastungsgrenzen kennen und stimmt die Aktivitäten des Tages darauf ab. (Quelle: Deutsche Gesellschaft für ME/CFS und Long COVID)

Crip Time soll Empowerment ermöglichen

So verstanden ist Crip Time viel mehr als ein Aufmerksammachen darauf, dass Menschen mit Behinderungen „mal mehr Zeit brauchen“. Sie ist der Appell, dass Zeitlichkeiten unterschiedlich sind – und es Wege geben soll, auch innerhalb dieser eigenen Zeitlichkeiten teilzuhaben.

Es geht also um ein grundsätzliches Verständnis der eigenen Zeitlichkeit, das Normen von Grund auf widerspricht. Und es geht darum, die eigene Zeitlichkeit anzuerkennen, statt Scham zu empfinden, wenn man gesellschaftlichen Normvorstellungen nicht entspricht. Crip Time zeigt auf, dass die eigene Körperlichkeit und Zeitlichkeit kennengelernt und zentriert werden kann. So entstehen neue Möglichkeiten in der Art und Weise, Arbeit und Leben zeitlich zu strukturieren – wenn die unterschiedlichen Zeitlichkeiten gesehen und mitgedacht werden und wenn die Menschen dahinter mitbestimmen.

Weiterlesen? Links & Literatur zum Thema

Alick, Claudia (2023). CRIP as Disability Terminology. https://callingupjustice.com/crip/

Deutsche Gesellschaft für ME/CFS und Long COVID (o.D.). Pacing als Strategie zum Krankheitsmanagement bei ME/CFS. https://www.mecfs.de/was-ist-me-cfs/pacing/

Kafer, Alison (2013). Feminist, Queer, Crip. Indiana: Indiana University Press.

Life on La Lune (2012). A Brief History of (French) Time. https://lifeonlalune.com/2012/03/25/a-brief-history-of-french-time/

Robert McRuer (2016): On Crip Theory. Youtube. https://www.youtube.com/watch?v=lZW6yoqINv4

Samuels, Ellen (2013). Six Ways of Looking at Crip Time. In: Disability Studies Quarterly 3(2017). https://dsq-sds.org/index.php/dsq/article/view/5824/4684

Lektorat: Maria Milbert
Bilder: Shutterstock