Alltag mit Cannabis und Unterstützungsbedarf: zwei Nutzer:innen berichten
Hier kommen zwei Menschen zu Wort, die schon lange auf Cannabis zur Linderung ihrer Symptome zurückgreifen, auf dem Weg in die Legalität ihrer Behandlung aber immer wieder auf Barrieren im Gesundheitssystem stoßen: Tobias G.* und Nina V.*.
Wie geht es ihnen mit der aktuellen Regelung? Mit welchen Hürden sind sie auf dem Weg zu ihrer Behandlung konfrontiert? Und wie könnten sie im Alltag die nötige Unterstützung dabei erhalten?
Foto: von Alesia Kozik von Pexels
Tobias G.: weniger Schmerzen, mehr Entspannung
„Es ist eigentlich alles für mich“ sagt Tobias G.* über Cannabis, das zu seinem Alltag gehört. Für ihn heißt das:
In seinem Wohnzimmer sitzen wir uns gegenüber, ich auf einer grauen Couch, Tobias G. in seinem Rollstuhl. Unter den zahlreichen Tätowierungen auf seinen Armen finden sich auch typische „Weed-Tattoos“ – Symbole des Cannabiskonsums. Durch die geöffnete Tür zum Garten hören wir die Vögel singen, in der Küche wartet ruhig ein Unterstützer, der mir freundlich die Tür geöffnet hat. Er gehört zum Team Persönlicher Assistent:innen, die Tobias G. im Alltag zur Seite stehen.
Tobias G. hat Friedreich-Ataxie, eine erbliche, fortschreitende Erkrankung. Sie führt unter anderem zu einer zunehmenden Störung von Bewegungsabläufen, aber auch zu Spastiken – starken Anspannungen der Muskulatur, zum Beispiel in den Armen – und zu Muskelschwund, sodass die meisten Betroffenen einen Rollstuhl nutzen. Das Rauchen von Cannabisblüten, sagt er, lindert einige der Symptome. Die Blüten besorgt er sich privat: „Man kennt so Leute und die kennen wiederum Leute, und die kennen Leute, und die haben einen Bruder, der Leute kennt.“
Nina V.: Cannabis gegen die Spastiken
Auch Nina V.* erhält ihr Cannabis privat, ihre Familie lässt es ihr aus deren Wohnort zukommen.
Foto: Maria Milbert
In der Mitte auf dem runden Esstisch, an dem wir sitzen, steht eine Barbie im Rollstuhl. Ihre Füße baumeln fröhlich in sommerlich-weißen Turnschuhen, der lange blonde Zopf wird durch ein pinkes Haargummi zusammengehalten, und ihre feingelenkigen Plastikarme halten einen Joint, der so lang ist wie ihr Oberkörper. „Früher hatte ich auch so lange Haare wie die Barbie“, sagt Nina V. schmunzelnd über die Puppe, die ihr Vater ihr geschenkt hat.
Oder? Um zu verstehen, warum die beiden ihr Cannabis trotzdem auf anderem Wege beziehen, lohnt zunächst ein Blick auf die aktuelle Situation in der Politik und im Gesundheitssystem.
Hintergrund: Cannabis auf dem steinigen Pfad zur Legalisierung
Legalisierung für alle: der Wille der Ampel
Die Regierungsparteien hatten sich in ihrem Koalitionsvertrag darauf geeinigt, Cannabis zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften an Erwachsene abzugeben und den landwirtschaftlichen Anbau zu legalisieren. Immer noch ist unklar, ob und wann diese Legalisierung ‚für alle‘ tatsächlich kommt – aktuell sind vielmehr verschiedene Varianten einer teilweisen Legalisierung im Gespräch.
Foto: Anna Shvets
Legalisierung für einige: medizinisches Cannabis seit 2017
Unter bestimmten Bedingungen ist der Bezug von medizinischem Cannabis schon seit 2017 legal. So können Apotheken einige Medikamente abgeben, die aus Cannabispflanzen hergestellt werden. Dazu zählen die Präparate Sativex – ein Mundspray, dass zum Beispiel gegen Spastiken bei MS eingesetzt wird – und Canemes – Kapseln, die der Übelkeit einer Chemotherapie entgegenwirken sollen.
Wer Cannabis als Droge oder Selbstmedikation einsetzt, greift jedoch nicht immer auf Präparate, sondern oft auf Marihuana, die getrockneten Blüten der Cannabispflanze zurück. Auch diese können gegen ärztliches Rezept in Apotheken erhalten werden. Laut Zahlen des Bundesgesundheitsministeriums erhielten deutsche Apotheken im Jahr 2021 bereits über neun Tonnen Cannabisblüten.
Wer kann medizinisches Cannabis erhalten?
Gesetzliche Regelung
Wer kann nun im Rahmen dieser Regelung Cannabisblüten und -präparate legal aus der Apotheke beziehen? Das Bundesgesundheitsministerium fasst es so zusammen:
Weil diese Formulierung – und ebenso der ihr zugrunde liegende Gesetzestext (§ 31 Abs. 6 SGB V) – noch recht offen gehalten sind, muss im Einzelnen geklärt werden, für welche Diagnosen und bei welchen Symptomen Cannabis genutzt werden kann. Daran haben unter anderem die Krankenkassen Interesse, da sie die Kosten einer Cannabistherapie tragen.
Foto: RDNE Stock project
Regelung(en) der Krankenkassen
Die Techniker Krankenkasse hat einen Report erstellen lassen, der Ergebnisse aktueller wissenschaftlicher Studien zur Wirksamkeit von Cannabis-Therapien zusammenfasst. Auf dieser Basis geht sie davon aus, dass eine förderliche Wirkung von Cannabis in erster Linie bei den folgenden Diagnosen belegt ist:
- “chronische Schmerzen,
- Spastizität bei Multipler Sklerose und Paraplegie,
- Epilepsie,
- Übelkeit und Erbrechen nach Chemotherapie sowie
- Appetitsteigerung bei HIV/AIDS.“
Diese Erkrankungen können daher als Indikationen für eine Therapie gelten. Auch für bestimmte psychiatrische Diagnosen wie Angststörungen und ADHS ist die Wirksamkeit laut der Kasse belegt. Für andere Diagnosen, zum Beispiel Depressionen und Psychosen, liegen keine belastbaren Studien vor. Andere Krankenkassen können wiederum andere Hintergründe, Expertisen und Entscheidungshilfen hinzuziehen.
Fazit: Diagnose + Alternativlosigkeit + Krankenkasse = Rezept?
Viele Menschen greifen wie Nina V. und Tobias G. auf Cannabis zurück, um die Symptome ihrer schwerwiegenden Erkrankungen zu lindern. Wer es in Deutschland legal über Apotheken beziehen möchte, muss einige Kriterien erfüllen. Erstens sollte eine schwere bzw. chronische Erkrankung diagnostiziert sein. Zweitens muss deutlich werden, dass kein anderes Medikament den gleichen Therapieerfolg hätte. Im Einzelfall hängt die Entscheidung über eine Therapie aber auch von der Arbeitsweise der Ärzt:innen und den Kriterien der Krankenkassen ab.
Wie verläuft nun der konkrete Weg bis zum Erhalt der Präparate oder Blüten? Und welche Herausforderungen stellen sich dabei, und wie gehen Tobias G. und Nina V. damit um? Darum geht es im zweiten Teil dieser Artikelserie – in zwei Wochen hier auf dem Blog.
*Namen von der Redaktion geändert