Nach dem Arztbesuch mit Rezept in die Apotheke – um Cannabisblüten für den nächsten Monat abzuholen. So könnte das Leben vieler Menschen aussehen, denn Personen mit schwerwiegenden Erkrankungen wie Multipler Sklerose können Cannabis bereits seit 2017 legal beziehen und besitzen. Aber wie unkompliziert ist die Versorgung mit medizinischem Cannabis wirklich? Wir haben recherchiert und Nutzer:innen gefragt.

Alltag mit Cannabis und Unterstützungsbedarf: zwei Nutzer:innen berichten

Hier kommen zwei Menschen zu Wort, die schon lange auf Cannabis zur Linderung ihrer Symptome zurückgreifen, auf dem Weg in die Legalität ihrer Behandlung aber immer wieder auf Barrieren im Gesundheitssystem stoßen: Tobias G.* und Nina V.*.

Wie geht es ihnen mit der aktuellen Regelung? Mit welchen Hürden sind sie auf dem Weg zu ihrer Behandlung konfrontiert? Und wie könnten sie im Alltag die nötige Unterstützung dabei erhalten?

Cannabis als Medizin – für immer mehr Menschen erhältlich
Foto: von Alesia Kozik von Pexels

Tobias G.: weniger Schmerzen, mehr Entspannung

„Es ist eigentlich alles für mich“ sagt Tobias G.* über Cannabis, das zu seinem Alltag gehört. Für ihn heißt das:

Ich habe dadurch keine Schmerzen mehr, noch irgendwas, was mich wirklich einschränkt. Man kann damit auch abschalten.
Tobias G.

Cannabis-Nutzer

In seinem Wohnzimmer sitzen wir uns gegenüber, ich auf einer grauen Couch, Tobias G. in seinem Rollstuhl. Unter den zahlreichen Tätowierungen auf seinen Armen finden sich auch typische „Weed-Tattoos“ – Symbole des Cannabiskonsums. Durch die geöffnete Tür zum Garten hören wir die Vögel singen, in der Küche wartet ruhig ein Unterstützer, der mir freundlich die Tür geöffnet hat. Er gehört zum Team Persönlicher Assistent:innen, die Tobias G. im Alltag zur Seite stehen.

Tobias G. hat Friedreich-Ataxie, eine erbliche, fortschreitende Erkrankung. Sie führt unter anderem zu einer zunehmenden Störung von Bewegungsabläufen, aber auch zu Spastiken – starken Anspannungen der Muskulatur, zum Beispiel in den Armen – und zu Muskelschwund, sodass die meisten Betroffenen einen Rollstuhl nutzen. Das Rauchen von Cannabisblüten, sagt er, lindert einige der Symptome. Die Blüten besorgt er sich privat: „Man kennt so Leute und die kennen wiederum Leute, und die kennen Leute, und die haben einen Bruder, der Leute kennt.“

Nina V.: Cannabis gegen die Spastiken

Auch Nina V.* erhält ihr Cannabis privat, ihre Familie lässt es ihr aus deren Wohnort zukommen.

Es entkrampft mich, es entspannt den Körper.
Nina V.

Cannabis-Nutzerin

Ina Frixel im Interview
„Früher hatte ich auch so lange Haare wie die Barbie“, sagt Nina V. schmunzelnd.
Foto: Maria Milbert
Damit bezieht sich Nina V. wie Tobias G. auf die Linderung der Spastiken, die bei ihr durch Multiple Sklerose (MS) ausgelöst werden. MS ist eine chronische Erkrankung des Nervensystems, die unter anderem Lähmungserscheinungen auslöst, sodass Menschen mit dieser Diagnose meist irgendwann im Krankheitsverlauf auf einen Rollstuhl zurückgreifen. Auch Nina G. nutzt einen Rollstuhl und erhält Persönliche Assistenz, die sie im Alltag bei den verschiedensten Tätigkeiten und Unternehmungen unterstützt.

In der Mitte auf dem runden Esstisch, an dem wir sitzen, steht eine Barbie im Rollstuhl. Ihre Füße baumeln fröhlich in sommerlich-weißen Turnschuhen, der lange blonde Zopf wird durch ein pinkes Haargummi zusammengehalten, und ihre feingelenkigen Plastikarme halten einen Joint, der so lang ist wie ihr Oberkörper. „Früher hatte ich auch so lange Haare wie die Barbie“, sagt Nina V. schmunzelnd über die Puppe, die ihr Vater ihr geschenkt hat.

Nina V. und Tobias G. sind zwei junge Menschen mit schwerwiegenden Erkrankungen, deren Alltag durch die Nutzung von Cannabis erleichtert wird. Beide besorgen sich die Blüten privat, auf einem Weg, der eindeutig in die Illegalität führt, und auf dem sich auch ihre Unterstützer:innen strafbar machen können. Dabei wurde genau für Menschen wie sie die Nutzung der Stoffe legalisiert und ein unkomplizierter Zugriff darauf geschaffen.

Oder? Um zu verstehen, warum die beiden ihr Cannabis trotzdem auf anderem Wege beziehen, lohnt zunächst ein Blick auf die aktuelle Situation in der Politik und im Gesundheitssystem.

Hintergrund: Cannabis auf dem steinigen Pfad zur Legalisierung

Legalisierung für alle: der Wille der Ampel

Niemand soll sich die Birne wegkiffen.
Cem Özdemir

Bundeslandwirtschaftsminister

Auch nicht deutsche Bäuer:innen. Die hiesige Landwirtschaft sei laut Özdemir aber bereit zum Anbau von Hanf und „die CDU kann es uns ja nun nicht mehr verbieten“ . Er freue sich aber auf das nun absehbare Ende vom „Irrsinn des Cannabisverbots“, sagte er 2021.

Die Regierungsparteien hatten sich in ihrem Koalitionsvertrag darauf geeinigt, Cannabis zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften an Erwachsene abzugeben und den landwirtschaftlichen Anbau zu legalisieren. Immer noch ist unklar, ob und wann diese Legalisierung ‚für alle‘ tatsächlich kommt – aktuell sind vielmehr verschiedene Varianten einer teilweisen Legalisierung im Gespräch.

Die deutsche Landwirtschaft freut sich auf neue Wiesen.
Foto: Anna Shvets

Legalisierung für einige: medizinisches Cannabis seit 2017

Unter bestimmten Bedingungen ist der Bezug von medizinischem Cannabis schon seit 2017 legal. So können Apotheken einige Medikamente abgeben, die aus Cannabispflanzen hergestellt werden. Dazu zählen die Präparate Sativex – ein Mundspray, dass zum Beispiel gegen Spastiken bei MS eingesetzt wird – und Canemes – Kapseln, die der Übelkeit einer Chemotherapie entgegenwirken sollen.

Wer Cannabis als Droge oder Selbstmedikation einsetzt, greift jedoch nicht immer auf Präparate, sondern oft auf Marihuana, die getrockneten Blüten der Cannabispflanze zurück. Auch diese können gegen ärztliches Rezept in Apotheken erhalten werden. Laut Zahlen des Bundesgesundheitsministeriums erhielten deutsche Apotheken im Jahr 2021 bereits über neun Tonnen Cannabisblüten.

Wer kann medizinisches Cannabis erhalten?

Gesetzliche Regelung

Wer kann nun im Rahmen dieser Regelung Cannabisblüten und -präparate legal aus der Apotheke beziehen? Das Bundesgesundheitsministerium fasst es so zusammen:

Cannabisarzneimittel sollen als Therapie bei schwerwiegend Erkrankten dann verschrieben werden können, wenn keine Therapiealternative besteht.

Bundesgesundheitsministerium

Als Beispiele nennt das Ministerium Schmerztherapie bei chronischen Erkrankungen und Übelkeit im Laufe einer Chemotherapie.

Weil diese Formulierung – und ebenso der ihr zugrunde liegende Gesetzestext (§ 31 Abs. 6 SGB V) – noch recht offen gehalten sind, muss im Einzelnen geklärt werden, für welche Diagnosen und bei welchen Symptomen Cannabis genutzt werden kann. Daran haben unter anderem die Krankenkassen Interesse, da sie die Kosten einer Cannabistherapie tragen.

Mal mehr, mal weniger freigiebig: deutsche Krankenkassen
Foto: RDNE Stock project

Regelung(en) der Krankenkassen

Die Techniker Krankenkasse hat einen Report erstellen lassen, der Ergebnisse aktueller wissenschaftlicher Studien zur Wirksamkeit von Cannabis-Therapien zusammenfasst. Auf dieser Basis geht sie davon aus, dass eine förderliche Wirkung von Cannabis in erster Linie bei den folgenden Diagnosen belegt ist:

  • “chronische Schmerzen,
  • Spastizität bei Multipler Sklerose und Paraplegie,
  • Epilepsie,
  • Übelkeit und Erbrechen nach Chemotherapie sowie
  • Appetitsteigerung bei HIV/AIDS.“

Diese Erkrankungen können daher als Indikationen für eine Therapie gelten. Auch für bestimmte psychiatrische Diagnosen wie Angststörungen und ADHS ist die Wirksamkeit laut der Kasse belegt. Für andere Diagnosen, zum Beispiel Depressionen und Psychosen, liegen keine belastbaren Studien vor. Andere Krankenkassen können wiederum andere Hintergründe, Expertisen und Entscheidungshilfen hinzuziehen.

Fazit: Diagnose + Alternativlosigkeit + Krankenkasse = Rezept?

Viele Menschen greifen wie Nina V. und Tobias G. auf Cannabis zurück, um die Symptome ihrer schwerwiegenden Erkrankungen zu lindern. Wer es in Deutschland legal über Apotheken beziehen möchte, muss einige Kriterien erfüllen. Erstens sollte eine schwere bzw. chronische Erkrankung diagnostiziert sein. Zweitens muss deutlich werden, dass kein anderes Medikament den gleichen Therapieerfolg hätte. Im Einzelfall hängt die Entscheidung über eine Therapie aber auch von der Arbeitsweise der Ärzt:innen und den Kriterien der Krankenkassen ab.

Wie verläuft nun der konkrete Weg bis zum Erhalt der Präparate oder Blüten? Und welche Herausforderungen stellen sich dabei, und wie gehen Tobias G. und Nina V. damit um? Darum geht es im zweiten Teil dieser Artikelserie – in zwei Wochen hier auf dem Blog.

*Namen von der Redaktion geändert