Cannabis darf nun in Deutschland konsumiert und auch selbst angebaut werden – seit dem 1. April ist die neue Gesetzgebung in Kraft. Auch viele Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen benutzen es – mit oder ohne ärztliches Rezept, wie wir in früheren Artikeln berichtet haben.
Aber wie hilfreich, wie gesund ist es wirklich? Ist Cannabis „heilsam“?
Wir haben nach Erfahrungen gefragt und fassen Studien für Euch zusammen.
„Eine große Erleichterung“ aus Sicht vieler schwerkranker Menschen
Um erst einmal ein Missverständnis auszuräumen: Cannabis ist kein Heilmittel gegen schwere Erkrankungen. In der Therapie von Krankheiten wie Multipler Sklerose wirkt es nicht gegen die Krankheitsursachen. Ziel der Behandlung ist vielmehr, bestimmte Symptome zu lindern. Genau das aber erleben viele schwerkranke Menschen als große Erleichterung im Alltag.
So berichtet Nina V.*, die auch in einem anderen Beitrag auf diesem Blog über ihren Cannabis-Konsum spricht, dass das Rauchen von Marihuana ihre Spastiken lindert. Spastiken sind schmerzhafte Muskelanspannungen, die bei Nina V. durch Multiple Sklerose verursacht werden. Sie leidet durch Cannabis weniger stark unter den Schmerzen, die diese Anspannungen mit sich bringen.
„Es ist schon eine große Erleichterung“ resümiert sie und bezieht das auch auf weitere therapeutische Erfolge. Bestimmte Formen der Physiotherapie, die sie sonst als sehr hilfreich erlebt, fallen ihr ohne diese Erleichterung schwer. „Heute ging es nicht gut“, erzählt sie über ihre Therapiestunde, denn die Spastiken waren besonders stark, „weil ich gestern so wenig gekifft habe.“
Tobias G.* leidet ebenfalls unter einer chronischen Erkrankung (Ataxie) und kommt ausführlich auch in einem anderen Beitrag auf diesem Blog zu Wort. Er erlebt die lindernde Wirkung auf seine Symptome ähnlich: Seine chronischen Gelenkschmerzen seien „wie weggeblasen“. Auch er spricht eine bestimmte Therapie an:
Wenn ich zum Beispiel bei der Ergotherapie Münzen aufsammeln muss, dann geht das ohne Gras schwer, die einzelnen Münzen zu greifen. Jetzt soll ich das auf Gras machen, weil ich dann nicht so zittere.
Wissenschaftlich betrachtet: Hilfe gegen Schmerzen
Für die Metastudie „Cannabis: Potential und Risiken. Eine wissenschaftliche Analyse“ (Hoch & Schneider 2018) wurden 2000 einzelne Studien ausgewertet und ihre Ergebnisse miteinander verglichen. So entstand ein detailliertes Bild des derzeitigen Forschungsstands in Bezug auf Cannabis.
Die Autor:innen kommen zu dem Schluss, dass eine positive bzw. erleichternde Wirkung von medizinischem Cannabis bei bestimmten Symptomen gut belegt ist. Dazu zählen unter anderem Schmerzen durch MS und Rheuma. „Moderat“, also mittelmäßig, seien die Ergebnisse der ausgewerteten Studien dahingehend, ob Cannabis auch gegen Spastiken helfe. Die Muskelspannungen würden demnach subjektiv durch die Betroffenen als geringer empfunden. Eine physische Lockerung der Muskulatur konnte jedoch bislang nicht belegt werden.
Als „gering“ stufen die Autor:innen wiederum die Studienlage zum Therapieerfolg bei psychischen Erkrankungen und Epilepsie ein. Um einzuschätzen, inwiefern Cannabis für Menschen mit Diagnosen aus diesem Bereich eine Hilfe sein kann, betrachten sie weitere Studien als dringend nötig.
Daneben fasst die Studie auch Befunde zu Nebenwirkungen der Cannabispräparate zusammen. Sie zeigt, dass Cannabispräparate nicht nur die erwünschten Wirkungen haben, sondern zum Beispiel auch zu schlechterer Stimmungslage, Übelkeit und dem Gefühl der Sedierung führen können. Diese Effekte erleben viele Menschen als so stark, dass sie die Behandlung abbrechen. Wie stark die Nebenwirkungen ausfallen, hängt aber auch vom jeweiligen Präparat und von dessen einzelnen Wirkstoffen ab (Hoch & Schneider 2018).
Therapeutisch betrachtet: Patient:innen im Mittelpunkt
Wie die Metastudie zeigt, ist zumindest die lindernde Wirkung von Cannabis auf bestimmte Schmerzen also gut belegt. In diesem Sinne resümiert auch die Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie (DGS):
Cannabinoide nehmen in der schmerz- und palliativmedizinischen Versorgung der betroffenen, schwerkranken Patienten einen zunehmend wichtigen Platz ein.
So werden in Deutschland die meisten Kassenanträge für die Kostenübernahme von Cannabis aufgrund chronischer Schmerzen gestellt (Volz & Häuser 2016). Die DGS hat Praxisleitlinien zu Cannabis in der Schmerzmedizin veröffentlicht. Darin setzt sie sich dafür ein, dass die Behandlung sich erstens konkret an den Wünschen der Erkrankten orientieren soll. Zweitens soll realistisch eingeschätzt werden, wie viel Cannabis jeweils nützen kann.
Patientenzentrierte Medizin muss symptomorientiert sein, sollte vornehmlich nach Patientenpräferenzen fragen und nach dem konkreten Nutzen für ihre Versorgung.
Auch die DGS räumt ein, dass es noch an weiteren Studien fehlt, um die Wirkung der Präparate zu belegen. Dazu brauche es vor allem sogenannte randomisierte kontrollierte Studien (RCTs), die mit einer großen Anzahl von Patient:innen über einen längeren Zeitraum durchgeführt werden (Horlemann & Schürmann 2018).
Fazit: Cannabis ist kein (All-)Heilmittel, aber vielen eine große Hilfe
Cannabisblüten und -produkte heilen keine Krankheiten. Dennoch sind sie vielen Menschen mit chronischen Erkrankungen durch ihre lindernde Wirkung eine große Alltagserleichterung. Das zeigen erstens die Schilderungen schwerkranker Menschen wie Nina V. und Tobias G., die gehört werden müssen. Zweitens ist dieses Erleben inzwischen durch entsprechende Studien belegt. Und drittens spricht auch die Tatsache, dass Cannabis bereits häufig verschrieben wird – obwohl die Beantragung der Kostenübernahme oft kompliziert ist –, für den therapeutischen Nutzen von Cannabis.
Anhand der aktuellen Studienlage lässt sich vor allem die lindernde Wirkung von Cannabis gegen krankheitsbedingte Schmerzen konkret belegen. Das schließt auch Schmerzen ein, die durch Spastiken verursacht werden. Darüber hinaus zeigen die Studien, dass auch die Spastiken selbst, also die Muskelanspannungen, durch die Cannabistherapie oft subjektiv als weniger gravierend empfunden werden.
Es braucht noch mehr und breiter angelegte Forschungsarbeiten, um nachzuvollziehen, wie hilfreich die Behandlung mit Cannabis bei einzelnen Symptomen genau ist. Dass Cannabis bestimmte chronische Schmerzen lindern kann, muss aber nicht mehr zur Diskussion stehen. Die Leitlinien der DGS bieten hier eine Orientierungshilfe für Patient:innen, Ärzt:innen und Beratende.
Weiterlesen? Links & Literatur zum Thema
Hoch, E. & Schneider, M. (2018, Januar). Ergebnisse der CaPRis-Studie. Cannabis: Potential und Risiken. Eine wissenschaftliche Analyse (Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Hrsg.). https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Drogen_und_Sucht/Berichte/Hoch_et_al_Cannabis_Potential_u_Risiko_SS.pdf. S. 8–10.
DGS – Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. (2018). Cannabis – Praxisleitlinien. DGS PraxisLeitlinien Schmerztherapie. https://dgs-praxisleitlinien.de/cannabis/
Volz, M. S., Siegmund, B. & Häuser, W. (2016). Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit von Cannabinoiden in der Gastroenterologie. Der Schmerz, 30(1), 37–46. https://doi.org/10.1007/s00482-015-0087-0
Horlemann, J. & Schürmann, N. (2018). Hilfsmittel für die tägliche Praxis. DGS-PraxisLeitlinie Cannabis in der Schmerzmedizin. Version: 1.0 für Fachkreise (DGS – Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V., Hrsg.) [E-Book]. https://dgs-praxisleitlinien.de/cannabis/#
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