Persönliche Assistenz bedeutet: Unterstützung, wann und wo man sie braucht, von Menschen, die man kennt und schätzt. Für viele Personen mit Behinderungen ist das die Grundlage eines selbstbestimmten Alltags. Dabei vergisst man leicht, dass dieser Alltag ein politisch erkämpfter ist — denn Assistenz gibt es noch nicht allzu lange und sie war auch kein Geschenk des Sozialsystems. Vielmehr wurde sie jahrzehntelang von Aktivist:innen erstritten. In drei Beiträgen geben wir einen Überblick über diese Geschichte der Assistenz. Der erste Teil startet an einer Universität in den USA und führt uns in einen Hamburger Club der 1960er-Jahre.

Ein Protest für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in San Francisco, 1977
Foto: Anthony Tusler

Die Independent-Living-Bewegung in den USA: vom Studienplatz zum Unterstützungssystem

Ed Roberts und die Rolling Quads

Ed Roberts erkämpfte sich seinen Studienplatz. So beginnt vielleicht die Geschichte der Independent-Living-Bewegung in den USA: mit dem ersten schwerbehinderten Studenten an der Berkeley-University in Kalifornien. Edward Verne Roberts war nach einer Polio-Erkrankung in seiner Kindheit gelähmt und zum Atmen nachts auf eine Eiserne Lunge angewiesen.

Er gilt als Inspiration der Bewegung, die ab den 1950er-Jahren in den USA Fuß fasste. Sie startete mit den „Rolling Quads“, einer Gruppe von Studierenden mit Behinderungen, deren Mitglieder nach Roberts Studienzulassung ebenfalls mit dem Studium in Berkeley begannen. Gemeinsam analysierten sie die politische Ebene von Behinderung und organisierten Proteste, mit denen sie zum Beispiel die Räumung ihrer Wohnräume erfolgreich verhinderten.

In den Jahren danach breitete sich die Bewegung in den USA aus. Sie organisierte Proteste und schuf neue Strukturen: zunächst private, spendenfinanzierte Systeme der Hilfe, die dann teils vom Staat mitfinanziert wurden. So wurden Menschen mit Behinderungen bei einem selbstbestimmten Leben außerhalb von Institutionen und Familie unterstützt.

 

Centers for Independent Living – eine erste Organisationsform selbstbestimmter Hilfe

1972 gründete eine Gruppe Studierender um Ed Roberts in Berkeley das erste „Center for Independent Living“ (CIL). Es koordinierte die Arbeiten der Freiwilligen und organisierte Peer-Counseling, in dem Menschen mit Unterstützungsbedarf von Berater:innen in ähnlichen Lebenssituationen unterstützt wurden. Heute gibt es Hunderte dieser Zentren, die fest im System der USA verankert sind.

Für Roberts verkörperte das erste CIL seine Ideen der politischen und praktischen Zukunft der Bewegung und seine Vorstellung für die Zukunft der Inklusion von Menschen mit Behinderungen. Später formulierte er:

Die Berkeley CIL war […] ein revolutionäres Modell für Organisationen, die sich für Menschen mit Behinderungen einsetzen; wir wollten nicht länger hinnehmen, dass man für uns spricht. Unsere Gesetze besagten, dass mindestens 51 % der Mitarbeitenden und des Vorstands Menschen mit Behinderungen sein mussten, sonst wäre es die gleiche alte Unterdrückung. […] Das war die Vision, die wir für die Zukunft der Bewegung hatten.

Ed Roberts

Aktivist

Ed Roberts mit dem Medical Director des US-Staats Kalifornien
Foto mit freundlicher Genehmigung von Minnesota Governor’s Council on Developmental Disabilities und Dr. William Bronston

CILs als früher Vorbilder der Assistenz

Man kann die CILs als praktischen Beginn der Assistenz betrachten, da hier Hilfen organisiert wurden, die Menschen ein unabhängiges Leben im eigenen Zuhause ermöglichten. Sie waren das Ergebnis eines politischen Kampfes: der Proteste, die mit Roberts und den Rolling Quads begannen. Die Bewegung fand ihre Vorbilder in der Frauenbewegung und der Bewegung für die Rechte Schwarzer Menschen in den USA.

Die Schwarz-Weiß-Bilder am Anfang dieses Beitrags und unter diesen Zeilen zeigen übrigens eine Demonstrationswelle in San Francisco 1977, als auch Roberts dort aktiv war. Die Demonstrant:innen besetzten auch Regierungsgebäude, um sich dafür einzusetzen, dass der gesetzliche Schutz von Menschen mit Behinderungen vor Exklusion und Diskriminierung auch praktisch umgesetzt wurde.

Anthony Tusler, der Fotograf der Bilder, kannte Ed Roberts. Er erzählt:

Ed und ich waren beide in den späten 1970er-Jahren auf einer Konferenz in Orange County in der Nähe von Disneyland. Wir saßen Seite an Seite, er in seinem großen Elektrorollstuhl, ich in einem leichten manuellen Rollstuhl. Bei dem Vortrag, den wir uns ansahen, ging es um das relativ neue Konzept von Plaketten oder Anhängern zur Kennzeichnung von Autos, die auf besonderen Parkplätzen parken durften.

Als sie fertig waren, wandte ich mich an Ed und sagte: “Klingt nach einer guten Idee”. Er entgegnete: “Erst, wenn wir einen Persönliche Assistenz haben”.

Anthony Tusler

Fotograf, Aktivist

Tusler zufolge nutzte Roberts bereits in den 1970er-Jahren den Begriff “Attendant Care”, Persönliche Assistenz.

Der Club 68 und seine Nachfolger in Deutschland

Die Independent-Living-Bewegung breitete sich aus den USA aus und auch an anderen Orten wurden CILs gegründet. Unabhängig von dieser internationalen Wirkung gab es aber ohnehin in vielen Ländern parallele Entwicklungen.

Hamburg 1968: selbstorganisierte Freizeit und Vernetzung von Menschen mit und ohne Behinderungen

Unter diesen Entwicklungen ist in Deutschland vor allem der „Club 68 – Verein für Behinderte und ihre Freunde“ bekannt geworden. Er wurde im Jahr 1968 gegründet – in der Zeit der Friedens- und Studierendenbewegung. In Hamburg organisierten die Mitglieder des Clubs gemeinsame Freizeitaktivitäten für Menschen mit und ohne Behinderungen. Dabei gab es keine Unterstützung oder Vorgaben von außen, wie ein Mitglied 50 Jahre später reflektiert:

Die Geschichte des Club 68 ist unspektakulär, von wenigen überhaupt wahrgenommen. Nicht der Staat gab hier eine Idee vor, sondern einzelne Menschen wollten etwas ändern.

Raimund Samson
Mitglied des Clubs 68 in Hamburg

Auszug aus einem Artikel der Luftpumpe Nr 1/1978
Quelle: Archiv Behindertenbewegung

Die Isolierung überkommen – eine Idee, die sich ausbreitet

Dem Club 68 ging es nicht nur um Freizeitgestaltung. Vielmehr setzten sich seine Mitglieder radikal für ein Umdenken ein: Einschränkende Vorstellungen von Normalität sollten überwunden, etablierte Rollenverteilungen überkommen und Haltungen des Mitleids gegenüber Menschen mit Behinderung verworfen werden. Es ging also auch um Vernetzung, um die Vorbereitung unabhängiger Lebenswege und neuer Konzepte.

In den folgenden Jahren gründeten sich an verschiedenen Orten in Deutschland solche „CeBeefs“, “Clubs behinderter und ihrer Freunde”, die sich politisch einsetzten. Viele davon bestehen in unterschiedlichen Formen bis heute, etwa in München, in Düsseldorf und nicht zuletzt in Hamburg.

Sie waren jahrelang aktiv und sind es teils heute noch. Eine Ausgabe der „Luftpumpe“, einer Zeitschrift der Behindertenbewegung, berichtet 1978 über Urlaubsreisen, die von der Bundesarbeitsgemeinschaft der CeBeefs organisiert wurden:

Die Zusammensetzung des Programms und des Teilnehmerkreises hält sich streng an die Ideale der Organisation. „Aktive Partnerschaft“ z. B. heißt dann, Behinderte und Nichtbehinderte in annähernd gleich großer Anzahl verbringen gemeinsam ihren Urlaub. „Aktiv“ bedeutet dabei, dass der einzelne den Willen zur Gemeinschaft mitbringt.
Die Luftpumpe

Zeitung zur Emanzipation Behinderter und Nichtbehinderter

Die US-amerikanische Independent-Living-Bewegung und die CeBeefs sind zwei Initiativen, die die Entwicklung Persönlicher Assistenz vorangebracht haben. In ihren Kreisen wurden Ideen gesammelt, diskutiert sowie immer wieder auch durch- und umgesetzt. Im nächsten Beitrag geht es weiter durch die Geschichte der Assistenz, und zwar anhand der ersten Proteste für die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen in Deutschland.

Links & Literatur zum Thema

„Club 68 – Verein für Behinderte und ihre Freunde e.V.“. (2008). Festschrift. 50 Jahre Club 68. http://www.club68-hamburg.de/downloads/festschrift-50-jh-club68.pdf.

Eichstedt, Astrid & Wulff, Stefanie (2023). Meilensteine der Behindertenrechtsbewegung. https://www.aktion-mensch.de/inklusion/recht/hintergrundwissen/behindertenrechtsbewegung

Hayman, B. (2019, 3. September). Independent Living History. Access Living. https://www.accessliving.org/newsroom/blog/independent-living-history/

krüppeltopia e.V. – Verein zur Förderung der Emanzipation behinderter Menschen (2023). Archiv Behindertenbewegung. https://archiv-behindertenbewegung.org/

Samson, R. (2008). „Pionierarbeit und Selbsterfahrung“, anläßlich des 50-jährigen Jubiläums des „Club 68 Hamburg“. In: Club 58 | Verein für Behinderte und Ihre Freunde e. V. Festschrift. 50 Jahre Club 68 Hamburg (S. 3-6). Abgerufen am 29. September 2022,  http://www.club68-hamburg.de/downloads/festschrift-50-jh-club68.pdf.

Specht, F. (2010). Persönliche Assistenz – ein wichtiger Baustein für ein selbstbestimmtes Leben Behinderter [Diplomarbeit]. Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

The Minnesota Governor’s Council on Developmental Disabilities. (2022). The Birth of the Independent Living Movement. Department of Administration. Governor’s Council on Developmental Disabilities. https://mn.gov/mnddc/parallels/six/6b/10.html

Tusler, Anthony (2023). About Disability (Blog). A 50 year compendium of disability-related writing, photography, and resources. https://aboutdisability.com/