Soziale Arbeit tritt Problemlagen engagiert entgegen. Als Profession will sie Menschenrechte stärken. Aber ihre Werte verändern sich mit der Zeit – und ebenso die Vorstellung davon, was Gesundheit oder gar ‚Normalität‘ bedeutet. Wann und wie läuft Soziale Arbeit Gefahr, ihre Adressat:innen zu diskriminieren?

Soziale Arbeit wandelt sich mit der Gesellschaft

Vieles von dem, was in früheren Zeiten Teil gesellschaftlicher sozialer Unterstützung war, erscheint uns heute untragbar. Wir wissen zum Beispiel, dass körperliche Gewalt, sexuelle Übergriffe und Vernachlässigung zum Alltag deutscher Kinder- und Jugendheime der Jahrzehnte nach dem Krieg gehörten. Auch Kinder und Jugendliche mit Behinderungen waren in den meist kirchlich verwalteten Anstalten davon betroffen.

Soziale Bewegungen prägen soziale Werte

Ideen sozialer Hilfen verändern sich also mit der Zeit. Auch die Werte Sozialer Arbeit stehen nicht still. Als Disziplin ist sie aus gesellschaftlichen Veränderungen erst hervorgegangen. Dabei spielten Soziale Bewegungen eine wichtige Rolle.

So war die Frauenbewegung in Deutschland ausschlaggebend für die Professionalisierung Sozialer Arbeit. Durch sie wurden Methoden und Lehrbücher entwickelt und Stätten der Ausbildung von Sozialarbeiterinnen entwickelt. Unter Letzteren war auch Alice Salomons „Soziale Frauenschule“ in Berlin, die heutige Alice Salomon Hochschule (Toppe, 2019). Salomon war eine bekannte Vertreterin der nationalen und internationalen Frauenbewegung.

Soziale Arbeit will gesellschaftliche Veränderung

Orientiert an den „Visionen einer besseren Gesellschaft“ (Reinhardt, 2023, 958), für die sich Soziale Bewegungen einsetzen, entwickelt Soziale Arbeit sich weiter und bringt auch neue Arbeitsfelder hervor. Heute ist sie eine vielfältige Disziplin mit zahlreichen verschiedenen Handlungsfeldern und Methoden.

Alice Salomon in den 1920er-Jahren
Bild: National Library of Israel
Creative Commons Attribution 3.0 Unported

Weitgehende Einigkeit besteht hinsichtlich ihrer Leitprinzipien: Sie orientiert sich an Menschenrechten, sozialer Gerechtigkeit und Teilhabe. Auch der Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH) definiert sie ausführlich in diesem Sinne:

Soziale Arbeit ist eine praxisorientierte Profession und eine wissenschaftliche Disziplin, deren Ziel die Förderung des sozialen Wandels, der sozialen Entwicklung und des sozialen Zusammenhalts sowie die Stärkung und Befreiung der Menschen ist. Die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, die Menschenrechte, gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlagen der Sozialen Arbeit.

Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e.V.

Der Begriff der “Menschenrechtsprofession” ist seit den 1990er-Jahren prägend für die Soziale Arbeit. In Deutschland hat vor allem Silvia Staub-Bernasconi (2007) dieses Selbstverständnis entfaltet. Damit sollen Menschenrechte systematisch zur Grundlage und zum Maßstab professionellen Handelns gemacht werden.

Hilfe ist von Normvorstellungen abhängig – und auch die verändern sich

Soziale Arbeit setzt sich also für soziale Gerechtigkeit ein. Sie wendet sich gegen „menschliches Leiden, Not und Unrechtserfahrungen“ (Staub-Bernasconi, 2007, 27) und demnach auch gegen Diskriminierung. Weil sie nicht außerhalb der Gesellschaft steht, ist sie auch von gesellschaftlichen Machtverhältnissen geprägt. Diese beeinflussen die Verständigung zwischen Sozialarbeitenden und Klient:innen. Anders gesagt: Soziale Arbeit

agiert […] selbst in hegemonialen Ungleichheitsverhältnissen und ist dadurch in (Re-)Produktionsdynamiken von Differenz und Exklusion verstrickt.

Anna Cornelia Reinhardt (2023, 956)

Prägend für Soziale Arbeit sind daher also auch gesellschaftliche Normvorstellungen. So orientiert sich sozialarbeiterisches Handeln oft an Normalverläufen von Biografien, den sogenannten „Normallebensläufen“ – und identifiziert als Problemlage, was von dieser Vorstellung abweicht (Staub-Bernasconi, 2011).

Im Rückgriff auf Theorien und Ansätze Sozialer Arbeit werden ihre Adressat:innen also zunächst als ‚anders‘ markiert. Erst dann bzw. dadurch können sie Unterstützung erhalten, die sie wieder in den Bereich des ‚Normalen‘, ‚Gesunden‘ oder ‚Selbstständigen‘ bringt.

Soziale Arbeit als Normalisierungsmacht

Somit übernimmt Soziale Arbeit auch eine Funktion der Normalisierung, der Kontrolle. Sie ist eine „Normalisierungsmacht“ (Maurer, 2001, 125), weil sie Differenz markiert. Dabei bezieht sie sich fortwährend auf das historisch jeweils unterschiedlich verstandene ‚Andere‘.

Wer als unterstützungsbedürftig gilt und wer nicht, wird also dadurch mitbestimmt, ob die Person zur entsprechenden Gemeinschaft gehört oder nicht – in Abhängigkeit von konkreten sozialen Gegebenheiten. Hier wird das Wissen über die Dominanzgesellschaft herangezogen (Mecheril, 2010) – über die maßgeblich weiße, nicht behinderte, heterosexuelle, christliche etc. Gesellschaft. Im Rückgriff auf dieses Wissen bringt Soziale Arbeit Differenzen auch hervor: Ihre Theorien und Ansätze definieren mit, wer hilfebedürftig ist und wer nicht.

Ein extremes Beispiel für den Wandel zentraler Werte: Während der 1920er- und 1930er-Jahre etablierte sich die Vorstellung vom „lebensunwerten Leben“. Mit dieser Rechtfertigung sprach der Nationalsozialismus großen Teilen der Bevölkerung die Menschenrechte ab, bis hin zur Zwangssterilisierung und Tötung von Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen. An der Umsetzung dieser Forderungen waren kirchliche pädagogische und psychiatrische Einrichtungen beteiligt.

Normvorstellungen entscheiden über Ressourcen mit

Die Orientierung an Normen kann sich heutzutage beispielsweise konkret darauf auswirken, wie soziale Projekte und Einrichtungen gefördert werden – oder welche keine Förderung erhalten. Umgekehrt müssen Gruppen anhand bestimmter Merkmale als ‚abweichend‘ markiert werden, damit sie Ressourcen erhalten können.

Fördergelder gibt es unter Umständen eben nur dann, wenn eine Förderungsbedürftigkeit beschrieben und bestimmt wird – indem Defizite markiert werden. Anhand bestimmter gesellschaftlicher Bilder gelingt dies besonders leicht und wird wenig hinterfragt. Dazu gehört etwa „Menschen mit Migrationshintergrund“, „Migrantinnen“ und „junge Musliminnen“, wie Mecheril (2010, 127) zynisch anmerkt.

Rassistische Diskriminierung im Alltag Sozialer Arbeit

Wie kann Diskriminierung im sozialarbeiterischen Alltag heute konkret aussehen? Diskriminierungserfahrungen von Adressat:innen der Sozialen Arbeit wurden bislang vor allem im Kontext von Rassismus untersucht. Klaus Melter (2006) beispielsweise fokussierte das Arbeitsfeld der ambulanten Jugendhilfe. Dort interviewte er sowohl Jugendliche als auch Mitarbeiter:innen. Alle befragten Jugendlichen mit Migrationsgeschichte erzählten dabei von wiederholten Diskriminierungserfahrungen in verschiedenen Lebenskontexten wie Schule, Geschäfte, Freundeskreise und Diskotheken.

Im Kontrast dazu standen die Erzählungen der Fachkräfte derselben Jugendhilfeeinrichtungen. Sie berichteten, selten oder gar nicht mit den Jugendlichen über Rassismuserfahrungen zu sprechen und diese auch nicht in ihre Beratungskonzepte einzubeziehen. Stellenweise wurden die Rassismuserfahrungen der Kinder in den Interviews von den Sozialarbeiter:innen auch infrage gestellt oder geleugnet.

So wiederholt sich Melter zufolge der systematische, institutionalisierte Rassismus in Einrichtungen der Jugendhilfe. Dafür prägte er den Begriff des „sekundären Rassismus“ (ebd.).

Spätere Studien weiterer Autor:innen verweisen ebenfalls auf dieses Nichtthematisieren und Leugnen von Rassismuserfahrungen. Das beschreiben sie für verschiedene Arbeitsfelder, beispielsweise (sozial‑)pädagogische Einrichtungen für Jugendliche (Scharathow, 2014) und Projekte der Suchthilfe für Erwachsene (Kuster-Nikolić, 2012).

Diskriminierungsrisiken im Beratungsalltag

Soziale Arbeit läuft also Gefahr, Diskriminierungserfahrungen auszublenden. Damit ist das Risiko verbunden, selbst zu diskriminieren, indem persönliche Erfahrungen von Adressat:innen geleugnet oder auf individuelles Handeln statt auf Strukturen zurückgeführt werden. Welche Risiken, welche Herausforderungen stellen sich dazu konkret im Berufsalltag? Was sollten Sozialarbeitende „auf dem Schirm haben“, um es nicht ungewollt zu tun? Mit welchen Erfahrungen sind Beratungssuchende konfrontiert?

Susanne Dern und Ulrike Zöller (2012) analysierten zu dieser Frage Interviews mit Beratungspersonen. Die Interviewten arbeiteten in 21 Beratungsstellen für Menschen, die aufgrund bestimmter Merkmale wie Gender, Behinderung oder Migrationshintergrund durch das AGG geschützt sind.

Anhand der Gespräche beschrieben Dern und Zöller fünf „Gefahren […], die Diskriminierungseffekte produzieren können“ (ebd., 102):

  • Nichtwahrnehmung und Nichtanerkennung der eigenen Diskriminierungsgeschichte der Beratungssuchenden“: Die Diskriminierungserfahrung wird als persönliche, subjektive Wahrnehmung der Klient:innen gesehen.
  • Pathologisierung gegenüber den geäußerten Erfahrungen der Beratungssuchenden“: Beratende deuten diskriminierendes Handeln gegenüber ihren Klient:innen als Reaktion – auf das problematische Handeln der Klient:innen selbst. Sie vermuten, dass diese eine psychische Erkrankung haben.
  • Belehrung und Erklärung statt Beratung“: Beratende nehmen an, dass die Diskriminierungserfahrung ihrer Klient:innen auf einem Missverständnis beruht. Sie erläutern die ‚andere‘ Perspektive, statt auf die Diskriminierung selbst einzugehen.
  • Assimilierungsbestrebungen gegenüber den Beratungssuchenden“: Hier haben Beratende das Gefühl, dass die Perspektive der Klient:innen, also ihr Wirklichkeitsverständnis selbst, das Problem ist. Sie versuchen dann, diese Perspektive zu erweitern bzw. zu ändern, anstatt die Diskriminierungserfahrung selbst zu thematisieren.
  • „Gefahr der Subjektivierung statt Aufdeckung der Strukturen“: Die konkrete Diskriminierungserfahrung wird wiederum als subjektiv eingeschätzt, allerdings mit einer anderen Erklärung: Frühere Diskriminierungserfahrungen prägten den Blick auf den Alltag, sodass alles als diskriminierend wahrgenommen werde. Dieser Blick von Beratenden verklärt die Sicht auf diskriminierende Strukturen im Umfeld der Klient:innen.

Anhand der Studie, die auf Interviews mit den Beratungspersonen selbst basierte, lassen sich vor allem deren Haltungen in der Beratung beschreiben. Sie sollte also nicht verallgemeinernd so verstanden werden, dass die Arbeit in Beratungsstellen in Deutschland grundsätzlich so wäre. Das Deutlichmachen und Beobachten dieser Risiken kann aber dabei helfen, die eigene Beratungstätigkeit zu hinterfragen und zu reflektieren.

Fazit: die eigene Perspektive nicht aus dem Blick verlieren

Immer wieder einen kritischen Blick auf den eigenen Blick zu werfen – das klingt vielleicht redundant, ist aber eine wichtige Aufgabe für Sozialarbeitende und auch für die Disziplin als Ganzes. Soziale Arbeit beruft sich auf gesellschaftliche Werte und will gesellschaftliche Veränderung. Damit ist sie auch eine politische Akteurin.

Zur Reflexion sozialarbeiterischer Perspektiven gibt es inzwischen eine Reihe fachlicher Konzepte. Dazu zählen beispielsweise Intersektionalität, Critical Whiteness und der Anti-Bias-Ansatz.

Allerdings reicht es nicht, beim Durchdenken von Perspektiven und Sprechweisen stehenzubleiben. Auch die Strukturen der Sozialen Arbeit selbst müssen verändert werden. Um beides – Reflexion und die Strukturen von Organisationen der Sozialen Arbeit – geht es in weiteren Beiträgen auf diesem Blog.

Weiterlesen? Literatur zum Thema

Dern, S., & Zöller, U. (2012). Diskriminierungsrisiken im Beratungsalltag. Widersprüche: Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, 32(126), 93–105. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-449268

Kuster-Nikolić, S. (2012). Soziale Arbeit im Spannungsfeld des Rassismus: Erleben Migrantinnen Rassismus in der sozialarbeiterischen Beratung? Kovač.

Maurer, S. (2001). Das Soziale und die Differenz. Zur (De-)Thematisierung von Differenz in der Sozialpädagogik. In H. Lutz & N. Wenning (Hrsg.), Unterschiedlich verschieden: Differenz in der Erziehungswissenschaft (S. 125–142). Springer Fachmedien GmbH.

Mecheril, P. (2010). Differenz und Soziale Arbeit. Historische Schlaglichter und systematische Zusammenhänge. In F. Kessl & M. Plösser (Hrsg.), Differenzierung, Normalisierung, Andersheit: Soziale Arbeit als Arbeit mit den Anderen (1. Aufl, S. 117–131). VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Melter, C. (2006). Rassismuserfahrungen in der Jugendhilfe: Eine empirische Studie zu Kommunikationspraxen in der Sozialen Arbeit. Waxmann.

Reinhardt, A. C. (2023). Soziale Arbeit und (Anti-)Diskriminierung. In A. Scherr, A. C. Reinhardt, & A. El-Mafaalani (Hrsg.), Handbuch Diskriminierung (S. 955–977). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-42800-6_54

Scharathow, W. (2014). Risiken des Widerstandes: Jugendliche und ihre Rassismuserfahrungen. Transcript.

Staub-Bernasconi, S. (2007). Soziale Arbeit: Dienstleistung oder Menschenrechtsprofession? Zum Selbstverständnis Sozialer Arbeit in Deutschland mit einem Seitenblick auf die internationale Diskussionslandschaft. In A. Lob-Hüdepohl, W. Lesch, A. Bohmeyer, & S. Kurzke-Maasmeier (Hrsg.), Ethik Sozialer Arbeit: Ein Handbuch (S. 20–54). F. Schöningh.

Staub-Bernasconi, S. (2011). Soziale Arbeit und soziale Probleme. Eine disziplin- und professions- bezogene Bestimmung. In W. Thole (Hrsg.), Grundriss Soziale Arbeit: Ein einführendes Handbuch (4. Aufl., S. 267–282). VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Toppe, S. (2019). Der Beitrag der bürgerlichen Frauenbewegung zur Entwicklung der Sozialen Arbeit. Digitales Deutsches Frauenarchiv. https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/der-beitrag-der-buergerlichen-frauenbewegung-zur-entwicklung-der-sozialen-arbeit

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