Diskriminierung am Arbeitsplatz bleibt oft unsichtbar, hat für Betroffene jedoch dramatische Folgen – das zeigt der Fall einer Berliner Angestellten eindrücklich. Auch vorherrschende Vorstellungen von Behinderung und Diskriminierung bei Arbeitgebern spielen eine Rolle – und verhindern oft echtes Umdenken. Der Beitrag zeigt anhand der Erfahrungen von Anwältin Sophia von Verschuer, wie Betroffene dagegen vorgehen können.

Warum das Thema zählt

Die Berliner Angestellte Lea Roth* beginnt diese Geschichte als erfahrene Sachbearbeiterin. Der Arbeitgeber strukturiert die Organisation ihrer Tätigkeiten um. Sie wird krank und klagt schließlich gegen Strukturen, in denen sie nicht arbeiten kann. Ein einzelner Arbeitsplatz kann zeigen, wie weit Diskriminierung im Alltag reicht – und dass es möglich ist, sich dagegen zu wehren.

Lea Roths Erfahrung, von der uns ihre Anwältin Sophia von Verschuer berichtet, wird zu einem Lehrstück darüber, mit welchen Hürden Betroffene kämpfen, wenn Arbeitgeber eigene Vorurteile nicht erkennen. Der Fall steht exemplarisch für eine Herausforderung, die viele trifft: Wie gehen Unternehmen mit Behinderung und Inklusion wirklich um? Neue Urteile zeigen, wie sehr Veränderung nötig ist – und dass letztlich alle Seiten faire, inklusive Arbeitsbedingungen brauchen.

Was passiert ist – der Fall Lea Roth

Bereits seit 1992 war Lea Roth als Sachbearbeiterin im Bereich Kfz-Haftpflicht bei der Feuersozietät Berlin Brandenburg beschäftigt, einem der ältesten Versicherungsunternehmen Deutschlands. Zum Angebot der Feuersozietät gehörte auch, dass Versicherte sich nach dem Schadensfall telefonisch melden können, beispielsweise direkt nach einem Unfall und noch von der Autobahn aus. Ursprünglich war diese Hotline-Telefonie an einen externen Dienstleister ausgelagert.

Wie die Arbeit zur Belastung wurde

2016 entschied sich die Feuersozietät jedoch für eine Umstrukturierung: Die Zusammenarbeit mit dem Callcenter wurde beendet und die Telefondienste wurden auf die eigenen Sachbearbeiter:innen verteilt. Auch Lea Roth übernahm nun regelmäßig Schichten an der Hotline – meist für drei Stunden, in denen mit nur minutenlangen Unterbrechungen konstant Gespräche geführt wurden. Die Anrufenden steckten dabei häufig in schwierigen Situationen, standen unter Stress und waren vor lauten Verkehrsgeräuschen schlecht zu verstehen.

In dieser Situation verschlechterte sich der Gesundheitszustand von Lea Roth nach und nach. Ihre Migräne nahm zu und wurde durch die Telefonie mit ausgelöst, sie schlief schlecht und war ständig erschöpft, entwickelte starken Tinnitus. Bereits 2017 wird ihr aufgrund dieser chronischen Symptome ein Grad der Behinderung von 40 zuerkannt. Drei Jahre später, 2020, zählte sie mit einem GdB von 50 amtlich als schwerbehindert.

Wie Lea Roth ihre Rechte einholt: erst zum Betriebsarzt, dann zum Gericht

Bis 2023 hielt sie die Telefondienste durch – stellte dann aber einen Antrag darauf, diese aufgrund der gesundheitlichen Belastung zu reduzieren. Nach einer Untersuchung empfahl der Betriebsarzt des Unternehmens, die Angestellte für nicht mehr als eine Stunde pro Tag bis zu dreimal pro Woche am Telefon einzusetzen. Aufseiten des Arbeitgebers blieb dies jedoch ohne Konsequenz: Schichtpläne wurden nicht verändert – man teilte Lea Roth teilweise sogar noch mehr Telefondienste zu und bewertete ihre Leistung schlechter.

Das nahm Lea Roth nicht hin: Im Sommer 2024 reichte sie mit Unterstützung von Anwältin von Verschuer Klage vor dem Arbeitsgericht Berlin auf behinderungsgerechte Anpassung des Arbeitsplatzes ein. Während des Verfahrens, im November 2024, wurde sie aufgrund der Belastung arbeitsunfähig und schied temporär aus ihrer Beschäftigung aus.

Ein Dreivierteljahr später schließlich bestätigte das Gericht in seinem Urteil Lea Roths Anspruch auf Anpassung: Die Telefondienste sollen beschränkt werden, damit die Angestellte ihren Tätigkeiten in der Sachbearbeitung weitgehend wie zuvor nachgehen kann. Ihr wurden 7.000€ Entschädigung für die Diskriminierung zuerkannt.

Der Arbeitgeber jedoch folgt dem Urteil nur zögerlich: Die Schichtpläne wurden nur begrenzt angepasst und die Belastung der Klägerin so auch kaum verringert. Selbst die Entschädigung zahlte der Arbeitgeber erst, als die Zwangsvollstreckung angekündigt wurde. Und derzeit läuft noch ein zweites Verfahren gegen den Konzern. Eine Kollegin von Lea Roth kämpft ebenfalls dafür, dass ihr Arbeitsplatz behinderungsgerecht angepasst wird. Die beiden Klägerinnen wollten nicht selbst zu ihren Anliegen interviewt werden, sind jedoch mit der Berichterstattung einverstanden.

Die wichtigsten Rechte bei Diskriminierung am Arbeitsplatz

Eine Reihe von Gesetzen sollen Betroffene vor Diskriminierung am Arbeitsplatz schützen. Wer sich gegen Ungleichbehandlung wehrt, kann sich auf diese Strukturen berufen – sie reichen vom Grundgesetz bis zum EU-Recht.

Gesetze zum Schutz vor Diskriminierung am Arbeitsplatz

  • Sozialgesetzbuch IX (SGB IX), § 164: Schwerbehinderte Arbeitnehmende haben einen Anspruch auf eine behinderungsgerechte Gestaltung von Arbeitsplatz, Arbeitsorganisation und Arbeitsumfeld. Dazu gehören technische Hilfsmittel, organisatorische Anpassungen und sogar die Umverteilung von Aufgaben, wenn dies zur Teilhabe notwendig ist.
  • Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG): Das AGG schützt vor Benachteiligung aufgrund einer Behinderung am Arbeitsplatz. Diskriminierung ist sowohl bei Einstellungen als auch im laufenden Arbeitsverhältnis verboten. Arbeitgeber sind verpflichtet, Maßnahmen zur Gleichbehandlung zu ergreifen.
  • UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK): Internationales Recht, das unter anderem „angemessene Vorkehrungen“ zur Gleichstellung verlangt. Das Recht auf Inklusion und Diskriminierungsfreiheit am Arbeitsplatz gilt auch in Deutschland als Auslegungshilfe für nationale Gesetze.
  • Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV): Regelt spezielle Anforderungen an Arbeitsplatzgestaltung und Gesundheitsschutz, zum Beispiel ergonomische Arbeitsplätze oder geeignete technische Einrichtungen für Menschen mit Behinderung.
  • Grundgesetz (Art. 3 Abs. 3 GG): Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden – dieser allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz ist auch im Arbeitsrecht zu beachten.
Die Auslegung der Rechtsgrundlagen kann kompliziert sein, weiß von Verschuer. Das gilt insbesondere für die UN-BRK, denn diese ist „Soft Law“: Ein Verstoß gegen die Konvention zieht keine direkte Sanktionen für Deutschland nach sich. Trotzdem gilt sie, denn deutsches Recht muss vor dem Hintergrund des europäischen Rechts ausgelegt werden – auch durch das Arbeitsgericht.

Wie Diskriminierung entsteht – und warum sie oft übersehen wird

Die Feuersozietät hatte auf den Antrag ihrer schwerbehinderten Mitarbeiterin nicht adäquat reagiert und auch das Gerichtsurteil zunächst nicht umgesetzt. Die Begründung: Das Unternehmen wollte andere Mitarbeiter:innen nicht dadurch benachteiligen, dass ihnen mehr Telefondienste zugeteilt würden. Diese Mehrarbeit für andere Beschäftigte, so ist die Argumentation des Versicherers durch das Gericht dokumentiert, stelle für diese eine „unverhältnismäßige und nicht zu verantwortende Mehrbelastung dar“.

Kurz: Die Umstrukturierung eines Arbeitsplatzes „diskriminiert“ Mitarbeiter:innen ohne Behinderung. Was für ein Verständnis von Diskriminierung steckt hinter dieser Denkweise?

Sophia von Verschuer ist damit vertraut. Ihrer Erfahrung nach fühlen sich Arbeitgeber oft „in der Pflicht, die Beschäftigten ohne Behinderung zu schützen“ – hier beispielsweise davor, mehr Telefondienste zu übernehmen. Eine organisatorische Umstrukturierung des Arbeitsplatzes sehen sie dann oft als „Bevorzugung“ der schwerbehinderten Person. Andererseits sind ihnen die eigenen – tatsächlichen – gesetzlichen Pflichten gegenüber Angestellten mit Behinderung oft nicht bekannt.

Hinzukommt, dass viele Arbeitgeber nicht mit dem Konzept struktureller oder institutioneller Diskriminierung vertraut sind:

Sie verstehen Diskriminierung als etwas, das nur mit Absicht geschieht – nicht Unternehmen diskriminieren, sondern eher einzelne Personen. Mein Eindruck ist, dass das auch in Verbindung mit Mobbing gesehen wird. Dieses Verständnis von Diskriminierung als „gezielt jemanden fertigmachen wollen“ ist häufig unser Problem. Der Arbeitgeber geht dann wirklich davon aus, dass er nicht diskriminiert und alles tut, was in seiner Macht liegt – obwohl vielleicht bereits ein Gerichtsurteil gegen ihn vorliegt.
Sophia von Verschuer

Anwältin

Gleichzeitig zeigt die Feuersozietät in ihrem Umgang mit Lea Roth die Vorstellung, es „besser zu wissen“ – besser als die Mitarbeiterin und der Betriebsarzt. Die Anwältin war immer wieder überrascht davon,
dass der Arbeitgeber die schwerbehinderte Beschäftigte mit ihren ärztlichen Attesten, mit ihrem Wissen um ihre Behinderung bevormundet und sagt, ich weiß es besser, ich mache es anders, ich weiß, was für dich gut ist. Ich erlebe manchmal in solchen Verfahren, dass sich die Arbeitgeber Gedanken machen, aber von falschen Gründen ausgehen, die nicht die der Betroffenen sind.
Sophia von Verschuer

Anwältin

In diesem Fall hatte der Arbeitgeber einige Zeit nach dem Gerichtsurteil seiner Angestellten die Möglichkeit gegeben, die Telefondienste frühzeitiger zu beenden. Gleichzeitig wurden jedoch keine zusätzlichen Kapazitäten bei anderen Mitarbeiter:innen geschaffen. Nimmt sich Lea Roth also aus dem Dienst heraus, heißt das, dass andere dadurch mehr ge- und potenziell überfordert sind – eine schwierige Situation für die Angestellte.

Wenn Diskriminierung krank macht

Die anhaltend lange Telefonie hatte gravierende Auswirkungen auf Lea Roths psychische und körperliche Gesundheit: Sie litt zunehmend unter Migräne, Erschöpfung, Übelkeit, Schlaflosigkeit und dem im Verlauf entwickelten Tinnitus. Infolge der dauerhaften Überlastung wurde sie schließlich arbeitsunfähig. Zusätzlich erlebte sie durch die Nichtanerkennung ihrer Rechte und die Zuteilung weiterer Telefondienste eine erhebliche psychische Belastung.

Dass Diskriminierung sich auf die Gesundheit auswirken kann, ist bekannt. Im Rahmen einer Metastudie wurden 2024 zahlreiche Untersuchungen zu den Auswirkungen von Diskriminierung zusammenfassend ausgewertet. Sie zeigt einen deutlichen Zusammenhang zwischen Diskriminierungserfahrungen, psychischer Gesundheit und Lebenszufriedenheit. Die drei Autorinnen resümieren:

Diskriminierung mindert das subjektive Wohlbefinden und die Lebenszufriedenheit auf messbare Weise. […] Neben unmittelbaren emotionalen Reaktionen nimmt auch das Belastungserleben zu, was langfristig die Gefahr für psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen erhöht.

Christine Emmer, Jutta Dorn & Jutta Mata 2024 (übersetzt)

Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes veröffentlichte 2017 eine Studie zu der Frage, wie Diskriminierung in Deutschland wahrgenommen und erlebt wird. Die Ergebnisse zeigen: Mehr als ein Zehntel (rund 13%) der Befragten, die Diskriminierung erlebt haben, gaben an, dadurch „psychisch krank geworden“ zu sein. 7% beschreiben körperliche Erkrankungen. Ein deutlich größerer Teil der Menschen mit Diskriminierungserfahrungen berichtet zudem von der Belastung, immer wieder an die Situationen denken zu müssen (47%) und davon, insgesamt misstrauischer geworden zu sein (40%).

Die Studie verweist jedoch noch auf eine andere Folge von Diskriminierungserfahrungen: 41% der Befragten gaben an, Diskriminierung gegenüber nun aufmerksamer zu sein. Weitere 18% haben sich gewehrt und fühlten sich in der Folge gestärkt. Das wirft eine neue Frage auf: Wie wehrt man sich gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz?

Wer hilft – und wie? Handlungsmöglichkeiten und Support

Anwältin von Verschuer weiß: Es gibt eine ganze Reihe von Ansprechpartner:innen, die Betroffene im Diskriminierungsfall unterstützen können.

Es gibt Antiskriminierungsberatung – also Beratungsstellen, die konkret auf Schwerbehinderungen und spezialisiert sind. Daneben gibt es klassisch das Inklusionsamt und die Integrationsfachdienste. Sie können auch mit den Arbeitgebern sprechen und ihnen die Palette dessen zeigen, was möglich ist. Dann kann man auch noch die Schwerbehindertenvertretungen und Betriebsräte innerhalb der Unternehmen ansprechen – und vielleicht sogar selbst in ihnen aktiv werden. Oder sich an mich wenden – d.h. an Anwält:innen.
Sophia von Verschuer

Anwältin

Wer hilft wie in welchem Fall? Die folgende Übersicht zeigt es.

Unterstützung bei Diskriminierung am Arbeitsplatz: Wer macht was?

  • Diskriminierungsberatung, zum Beispiel durch die ADB: niedrigschwellige Beratung und Unterstützung, Hilfe beim Verfassen von Beschwerdebriefen, gemeinsame Entwicklung von Strategien und Beratung zu ersten Schritten im Klageverfahren
  • Inklusionsamt: offizielle Stelle zum Schutz von schwerbehinderten Beschäftigten, bezahlt ggf. Hilfsmittel oder Umbaumaßnahmen, muss einer Kündigung von schwerbehinderten Arbeitnehmer:innen zustimmen
  • Inklusionsfachdienst: unterstützt und berät bei Problemen im Job im Zusammenhang mit Behinderung, begleitet persönlich bei Konflikten mit dem Arbeitgeber und hilft, passende Lösungen für den Arbeitsplatz zu finden
  • Schwerbehindertenvertretung innerhalb der Unternehmen: interne Ansprechpersonen für alle Themen rund um Schwerbehinderung, Unterstützung bei Gesprächen mit Arbeitgebern, Interessenvertretung gegenüber der Personal- oder Geschäftsleitung
  • Betriebsrat: vertritt die Interessen aller Beschäftigten – auch beim Thema Diskriminierung –, unterstützt bei Beschwerden und setzt sich für Fairness ein
  • Anwält:innen: beraten zu Rechten und möglichen Schritten, helfen beim Verfassen von Schreiben und tragen den Fall vor Gericht, vertreten die Interessen der Betroffenen rechtlich und begleiten durch das Verfahren

Was das Urteil bedeutet – für Angestellte und Arbeitgeber

Lea Roth hat vor Gericht Recht bekommen – der Arbeitgeber muss den Arbeitsplatz umorganisieren und ihr eine Entschädigung für die erlittene Diskriminierung zahlen. Ist dieses Urteil nun ein Präzedenzfall, auf den sich andere berufen können? Nicht ganz, weiß von Verschuer – aber Auswirkungen sollte es trotzdem haben. Im Kern geht es um den Anspruch auf „behinderungsgerechte Beschäftigung“, der im SGB IX (§164) festgelegt ist. Das heißt unter anderem: Der Arbeitsplatz soll so gestaltet oder angepasst werden, dass die Arbeitsfähigkeit trotz Behinderung erhalten bleibt.

Der gesetzliche Anspruch ist wenigen Arbeitgebern bekannt

Bei der Anpassung von Arbeitsplätzen denken viele an „den Klassiker“, berichtet von Verschuer: „Jemand erblindet und braucht Hilfsmittel“. Der Anspruch gilt jedoch auch für viele Menschen, deren gesundheitliche Bedarfe nicht unmittelbar sichtbar sind oder als Behinderung wahrgenommen werden, zum Beispiel bei Krebserkrankungen .

Zudem umfasst er ausdrücklich auch die Organisation der Arbeitsstelle, beispielsweise Arbeitszeiten und -inhalte. Auch „kollegiale Assistenz“ kann Teil der Neuorganisation sein, das heißt, die Arbeitsstrukturen anderer Beschäftigter werden so angepasst, dass der Arbeitsplatz der schwerbehinderten Person erhalten bleiben kann. Die Umverteilung von Telefondiensten ist ein Beispiel dafür.

Von Gerichten wird das „immer wieder so ausgeurteilt“, erzählt von Verschuer – bekannt ist es Arbeitgebern jedoch oft noch nicht. Sie berufen sich auf ihre unternehmerische Freiheit – das Recht, ihre Betriebe eigenverantwortlich und selbstständig zu führen. Dieser Entscheidungsspielraum ist jedoch in manchen Fällen gesetzlich begrenzt – beispielsweise in Bezug auf Schwerbehinderung.

Wer sich jetzt wie auf das Urteil berufen kann

Wichtig ist jetzt, das Urteil – und andere, ähnliche Urteile – bekannt zu machen und das Wissen zu den rechtlichen Grundlagen zu verbreiten. Dann kann die Rechtsprechung auch eine größere Wirkung entfalten, meint von Verschuer:

Meine Hoffnung ist, dass immer mehr Menschen, die von solchen Situationen betroffen sind, sich wehren. Dass es dann es mehr Klagen gibt, und dass auch Arbeitgeber sensibler darauf reagieren.
Sophia von Verschuer

Anwältin

Arbeitgeber könnten sich zwar durch solche Urteile bedroht fühlen – andererseits zeigen ihnen die Gerichte auf diesem Wege aber auch Möglichkeiten auf, proaktiv etwas zu gestalten. Eine weitere Hoffnung richtet von Verschuer auf die Schwerbehindertenvertretungen und Betriebsräte. Sie könnten sich infolge solcher Urteile „mehr Wissen aneignen und aktiver etwas unternehmen“, um die Beschäftigten zu unterstützen.

Fazit: Inklusion ist längst keine Option mehr, sondern ein Muss

Das Gericht hat zwar zugunsten von Lea Roth entschieden, ganz überkommen sind ihre Hürden am Arbeitsplatz jedoch nicht: Die Feuersozietät setzt die Vorgaben des Gerichts, wenn überhaupt, eher zögerlich um. Insgesamt scheint es bei dem Versicherer wenig Einsicht in die Diskriminierung zu geben, berichtet von Verschuer: „Der Arbeitgeber war der Ansicht, das Urteil anders auslegen zu können“.

So einfach geht es jedoch nicht. Inzwischen hat das Gericht Stellung bezogen und die Feuersozietät zur Umsetzung des Urteils aufgefordert – sie muss Lea Roths Arbeitsstelle entsprechend der gerichtlichen Vorgaben umorganisieren, andernfalls wird ein Zwangsgeld fällig. Und das Unternehmen wird sich auch mit der Klage der zweiten Mitarbeiterin entsprechend auseinandersetzen müssen.

Für Anwältin von Verschuer ist grundsätzlich nicht nachvollziehbar, warum Arbeitgeber weiterhin „150 Prozent Leistung“ von ihren Angestellten erwarten, statt sich zu verändern. Gerade in der heutigen Zeit, in der Arbeitskräfte ihre Anstellung häufig wechseln oder in anderen Ländern bessere Arbeitsbedingungen finden können. Arbeitgeber müssen dann laufend viel Energie investieren, um neue Fachkräfte einzuarbeiten – statt sich um diejenigen zu kümmern, die ihre Abläufe schon seit Jahren oder Jahrzehnten kennen.

Das heißt: Gerade, wenn Arbeitgeber sich nicht auf Mitarbeiter:innen einstellen, die im Laufe ihrer Anstellung eine Behinderung erwerben, gehen Wissen und Expertise verloren.

Dass der Arbeitgeber nicht erkennt, welch unglaublichen Schatz er da eigentlich hat – welche Kompetenzen und Erfahrungen er nutzen und gezielt einsetzen könnte – ist für mich völlig unverständlich. Gerade in diesem Fall: Dass meine Mandantin so lange in der Telefonie eingesetzt wurde, ist nicht nachvollziehbar. Sie verfügt über ein enormes Wissen und hätte ihre Fähigkeiten viel besser einbringen können.
Sophia von Verschuer

Anwältin

Sich inklusiv (um-)zustrukturieren, ist für Arbeitgeber schon lange keine soziale Option mehr – es ist auch eine Notwendigkeit.
Sophia von Verschuer
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Sophia von Verschuer ist Anwältin für Arbeitsrecht in Berlin und berät Arbeitnehmer*innen und ihre Interessenvertretungen in allen Fragen des Arbeitsrechts. Regelmäßig gibt sie Schulungen für Betriebsräte und Schwerbehindertenvertretungen und hält Fachvorträge im Bereich Schwerbehinderung und Arbeit.

*Der Name der Betroffenen wurde geändert.
Bilder (außer Foto von Sophia von Verschuer): Shutterstock