Wie inklusiv ist die deutsche Politik wirklich? Von den Fluren des Bundestags bis zu den Sitzungssälen der Kommunen – dieser Artikel beleuchtet kritisch die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen als Politiker:innen in unserem Regierungssystem. Wir werfen einen Blick hinter die Kulissen der Ministerien, auf die Inklusionsstrategien der Parteien und ziehen ein Fazit zur aktuellen Repräsentation von Menschen mit Behinderungen in der aktiven Politik. Dabei wird deutlich: Politische Inklusion ist untrennbar mit gesellschaftlicher Inklusion verbunden und kann weitreichende Konsequenzen für die Qualität unserer Demokratie haben.

Wie inklusiv ist der Deutsche Bundestag als Arbeitgeber?
Auf den ersten Blick sieht es gut aus für die Inklusion im Bundestag: Nach seinen eigenen Angaben haben ca. 10% der Angestellten eine Behinderung. Nur 6% sind gesetzlich vorgeschrieben, der Bundestag übertrifft diese Quote also um einige Prozentpunkte.
Schaut man genauer hin, wird jedoch deutlich, dass sich diese Zahlen nicht zwangsläufig auf die Politik, also auf das „Kerngeschäft“ des Parlaments beziehen. Vielmehr sind in der Quote alle Beschäftigten enthalten – also nicht nur Abgeordnete, sondern zum Beispiel auch Verwaltungspersonal, Hausmeister:innen oder Protokolldienst.

Wie es unter den Abgeordneten aussehen kann, darauf lässt eine Umfrage der Süddeutschen Zeitung unter Abgeordneten des 19. Bundestags (2017-2021) Rückschlüsse zu. Demnach ist unsere repräsentative Demokratie nicht unmittelbar repräsentativ: Es fehlten 43 Menschen mit Behinderung, um die Verteilung in der Bevölkerung abzubilden. Das gilt ebenso oder noch stärker für andere Gruppen: Es fehlten beispielsweise 33 Muslim:innen, 107 Menschen mit Migrationshintergrund und 140 Frauen.
Mit einer eigenen Datenauswertung geht Zeit Online geht der Frage nach, wie der Bundestag über die Jahre besetzt war und wie sich dies verändert hat. Unterschiede findet die Zeitung vor allem danach, wie das Parlament jeweils nach Parteien zusammengesetzt war. Andrea D. Bührmann, Soziologieprofessorin an der Georg-August-Universität Göttingen, interpretiert das Ergebnis:
Je weiter rechts der Bundestag politisch verortet ist, desto weniger Frauen, offen lebende Lesben und Schwule, Menschen mit Migrationshintergrund oder Menschen mit Behinderung sind vertreten.
Andrea D. Bührmann
Soziologin
Das deutet darauf hin, dass der neue Bundestag ab 2025 noch homogener als die vorherigen sein wird. Die Repräsentation Interessenvertretung von Menschen mit Behinderung und anderen Gruppen wird hier ein besonders brenzliges und wichtiges Thema sein.
Wie barrierefrei ist der Bundestag als Arbeitsplatz?
Es mangelt also weiterhin an einer Vertretung von und für Menschen mit Behinderung im deutschen Parlament. Liegt das an mangelnder Barrierefreiheit?
Eigentlich bietet der Bundestag eine umfassende barrierefreie Infrastruktur, berichtet beispielsweise Heike Heubach (SPD), die erste gehörlose Abgeordnete im Bundestag. Heubach erlebt, dass ihr für ihre Arbeit die passenden Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. So arbeitet sie in ihrem beruflichen Alltag mit Gebärdensprachdolmetscher:innen.
Auch einer Broschüre des Bundestages zufolge stehen Arbeitskräften mit Behinderung dort vielfältige Unterstützungsmöglichkeiten zur Verfügung. Dazu zählen beispielsweise:
- Mittel zur barrierefreien Gestaltung des Arbeitsplatzes wie Lesegeräte, Bildtelefone oder höhenverstellbare Schreibtische
- Personelle Unterstützung wie Gebärdensprachdolmetscher:innen, Arbeitsassistenz und Vorlesekräfte
- Für Menschen im Rollstuhl eine höhere Quadratmeteranzahl des Arbeitszimmers
Dennoch werden mit diesen Ressourcen noch keine gleichen Arbeitsbedingungen im Alltag der Abgeordneten erreicht. Davon erzählt beispielsweise die Grüne Stephanie Aeffner, die 2021 als erste Frau im Rollstuhl ins Parlament eingezogen ist:
Auf den ersten Blick ist der Bundestag ein barrierefreies Gebäude, es gibt zum Beispiel Rampen im Plenarsaal. Aber im praktischen Tun macht es trotzdem einen Unterschied, dass ich im Rollstuhl sitze. Jeder andere Abgeordnete läuft mal zwischen den Reihen durch, geht zu Kolleginnen und Kollegen und quatscht dort ein bisschen. Für mich gilt: Es gibt im Plenarsaal nur zwei Sitzreihen, wo ich durchkomme – ganz vorn und in der Mitte. In die anderen Reihen komme ich nicht. Einfach mal rumlaufen und sich austauschen, das findet für mich nicht statt.
Stefanie Aeffner
Die Grünen
Wie inklusiv sind die Ministerien?
Mit dieser Frage musste sich die Bundesregierung nach einer kleinen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion im Jahr 2024 auseinandersetzen. Die Fraktion hatte sich nach der Beschäftigungssituation von Menschen mit Behinderung im Bundeskanzleramt, in Ministerien und in Bundesbehörden erkundigt.
Die Antwort der Bundesregierung zeigt: In Bezug auf Inklusion gibt es große Unterschiede zwischen den Beschäftigungsgruppen. So ist der Anteil Beschäftigter mit Behinderung im einfachen Dienst am höchsten, in einigen Ministerien liegt er sogar bei über 10%. Zum einfachen Dienst zählen beispielsweise der Botendienst und Hilfstätigkeiten in der Verwaltung, die keine besonderen Kenntnisse oder Ausbildung erfordern. Im gehobenen und mittleren Dienst, also zum Beispiel in der Fachinformatik und Personalsachbearbeitung, liegt der Anteil bereits etwas niedriger, oft zwischen 5 und 10%. Im höheren Dienst schließlich wird die Luft dünn: Beschäftigte mit Behinderung machen unter 5% der Referent:innen, Abteilungsleiter:innen und anderen Spitzenpositionen wie Staatssekretär:innen aus. Damit sind sie hier deutlich unterrepräsentiert. Wie auch beim Bundestag lässt sich damit feststellen, dass Beschäftigte mit Behinderung vor allem in geringer qualifizierten, weniger verantwortungsvollen und geringer bezahlten Berufsgruppen vertreten sind.

Auch die Ministerien untereinander unterscheiden sich stark. Während das Bundesministerium für Arbeit und Soziales sowie das Bundesministerium der Verteidigung tendenziell höhere Quoten aufweisen, sind im Auswärtigen Amt nur zu 4,8% und im Bundesministerium für Digitales und Verkehr sogar zu 4,7% Menschen mit Behinderung angestellt. Diese Ministerien erfüllen damit die gesetzlichen Mindestanforderungen nicht.
Wie inklusiv ist die Kommunalpolitik?
Mit dieser Frage setzt sich der SPD-Politiker und Rollstuhlfahrer Constantin Grosch auseinander. Grosch hat 2024 ein Vernetzungstreffen organisiert, bei dem sich Politiker:innen mit Behinderung austauschten und über Lösungen für Problemstellungen diskutierten. Er schätzt den Anteil von Menschen mit Behinderung niedrig ein: In Bundes- und Landeparlament seien es durchschnittlich pro Parlament ein oder zwei, also 30 bis 40 Abgeordnete in Deutschland insgesamt, erklärt er gegenüber der Frankfurter Rundschau.
Die Grüne Politikerin Stephanie Aeffner kennt viele Gründe dafür aus eigener Erfahrung. Vor ihrer Tätigkeit im Bundestag war sie Landesbehindertenbeauftrage in Baden-Württemberg. Gegenüber Zeit Online berichtet sie, dass Räumlichkeiten, die in der Lokalpolitik genutzt werden, oft nicht barrierefrei sind. Auch können sich kommunalpolitische Verbände oft keine Gebärdensprachdolmetscher:innen leisten. Die Hürden, es mit einer Behinderung in die Kommunalpolitik zu schaffen, sind also hoch.
Eine genaue Quote der Beschäftigten mit Behinderung, so Constantin Grosch, könne schon deshalb nicht angegeben werden, weil viele Politker:innen nicht über ihre Behinderung sprechen. Genaueren Angaben zumindest angenähert hat sich die Studie „Vielfalt sucht Repräsentation – Amts- und Mandatsträger*innen in der Kommunalpolitik“ mit einer Umfrage im Jahr 2022 zur Diversität in der städtischen Kommunalpolitik. Sie schließt:
Die Leitfrage der Studie kann im Kern damit beantwortet werden, dass Amts- und Mandatsträger*innen in deutschen Großstädten im Durchschnitt 51 Jahre alt, heterosexuell sowie christlich oder konfessionslos sind und darüber hinaus ohne körperliche Behinderung und/oder psychische Erkrankung leben. Die religiöse Vielfalt findet nur ein schwaches Abbild in der Zusammensetzung der kommunalen Wahlämter und Mandate. Personen mit Behinderung und/oder psychischer Krankheit müssen gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil als unterrepräsentiert gelten.
Studie Vielfalt sucht Repräsentation – Amts- und Mandatsträger*innen in der Kommunalpolitik
Inklusion als politisches Ziel: Wie handhaben es die Parteien?
Wer könnte Menschen mit Behinderungen neue Perspektiven in der Politik eröffnen und ihre Repräsentation stärken? Die politischen Parteien verfügen über diese Möglichkeit.
Eine gute Nachricht: Für die Bundestagswahl 2025 führten alle Parteien, die es in den Bundestag geschafft haben, Belange von Menschen mit Behinderungen in ihren Wahlprogrammen auf. Dabei äußerten sie sich jedoch unterschiedlich konkret. Außerdem nahm in keinem der Wahlprogramme Inklusion einen zentralen Platz ein. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke kommentiert:
Allen Wahlprogrammen ist eins gemein: Im Bereich der Inklusion ist viel Luft nach oben. Es fehlt an innovativen Konzepten, die Menschen mit Behinderungen beim Übergang von der Schule in den Beruf neue Perspektiven eröffnen.
Aus Sicht der Arbeitsgemeinschaft liegen die Gründe für die fehlende Repräsentation also bereits im deutschen Bildungssystem – mit denen sich die Parteien weiterhin wenig befassen. So verfügen Politiker:innen meist über hohe Bildungsabschlüsse, die meisten Abgeordneten sind Jurist:innen. Wenn bereits berufliche Bildung für Menschen mit Behinderung eine Lücke in den Parteiprogrammen darstellt, wird es Ihnen auch in Zukunft erschwert, hohe politische Ämter zu erreichen.

Der Deutschlandfunk und Aktion Mensch haben die Parteiprogramme für die Bundestagswahl 2025 im Hinblick auf Inklusion analysiert. Einen prinzipiellen Ansatz der Inklusion verfolgt demnach vor allem Die Linke. Sie hält am Grundsatz fest, dass Förderschulen und Werkstätten für Menschen mit Behinderungen überflüssig sind und diese Systeme umstrukturiert werden müssen. Die geringste Rolle spielt Inklusion hingegen im Parteiprogramm der AfD, die beispielsweise Antidiskriminierungsgesetze ablehnt. Und einzig die Grünen beziehen sich auf die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen: Sie wollen, dass Bundesgebäude innerhalb von zehn Jahren barrierefrei und Anbieter:innen öffentlicher Dienstleistungen zur Barrierefreiheit verpflichtet werden.
Es gibt allerdings auch keine allgemeinen Vorgaben, an welche die Parteien sich halten müssten. Die gesetzliche Beschäftigungsquote für Menschen mit Behinderungen von 6% gilt nicht für die Listenplätze, sondern für Arbeitgeber:innen. Ein Beispiel für eine solche gesetzliche Vorgabe wäre eine Quote für die Aufstellung von Kandidat:innen und Abgeordneten mit Behinderung. Das wurde bereits 2013 von einzelnen Politiker:innen der SPD gefordert, jedoch nicht durch die Partei – oder andere Parteien – übernommen.
Fazit: noch lange keine ausreichende Repräsentation von Menschen mit Behinderung im politischen System
Sowohl der Blick in die Beschäftigtenstatistik als auch die Erfahrung von Politiker:innen zeigt: Menschen mit Behinderung sind noch nicht ausreichend in der Politik repräsentiert. Es fehlt an Politiker:innen, die ihre Interessen aus eigener Perspektive durchsetzen. In der Kommunalpolitik bestehen vielfältige Hürden, die oft mit fehlender Finanzierung zu tun haben. Im Bundestag und in den Ministerien hingegen weisen zwar zahlreiche Angestellte eine Behinderung auf, jedoch vor allem in Berufsgruppen mit niedrigerem Status und Gehalt und seltener in politischen Ämtern.
Politische Inklusion geht nicht ohne gesellschaftliche
Außerdem wird deutlich: Inklusion im Bundestag und Inklusion in der Gesamtgesellschaft sind eng miteinander verknüpft. Dafür kennt auch Stephanie Aeffner im Rückblick auf die Anfänge Ihres Engagements Beispiele:
Politisches Engagement ist außerdem eine Frage von Zeit. Wenn ich mir überlege, wie viele Stunden ich mich mit Briefen für Krankenkassen rumschlage, merke ich schnell: Das ist Zeit, die mir im Vergleich zu anderen Menschen fehlt.
Stefanie Aeffner
Die Grünen
Der Zusammenhang zwischen Inklusion in der Politik und in der Gesellschaft zeigt sich zudem in den Parteien. So weisen rechte Parteien der Teilhabe behinderter Menschen in ihren Programmen insgesamt weniger Raum zu. Gleichzeitig zeigen Analysen, dass genau für diese Parteien im Bundestag auch weniger Abgeordnete mit Behinderung tätig sind. Das gilt ebenso für andere Gruppen, die über geringeren gesellschaftlichen Einfluss verfügen, beispielsweise Menschen mit Migrationshintergrund oder Frauen.
Die Konsequenzen für unsere Demokratie
Eine vielfaltige Gesellschaft braucht vielfältige Repräsentation für eine funktionierende demokratische Kultur. Die im Bundestag vertretenen Lebensperspektiven bilden nicht die einzige, aber eine wichtige Grundlage für die politischen Entscheidungen, die unser gesellschaftliches Leben prägen. Fehlen Erfahrungen und Sichtweisen marginalisierter Gruppen, werden diese Entscheidungen aus einer eingeschränkten Perspektive getroffen.
Bei solchen „blinden Flecken“ der demokratischen Entscheidungsfindung besteht das Risiko, dass strukturelle Barrieren, die den Zugang zu Politik und politischen Institutionen erschweren, unerkannt und unangetastet bleiben. So verfestigen sich Strukturen weiter, die den Zugang zur politischen Teilhabe versperren – weil es an Vorbildern mangelt, die politischen Interessierten zeigen, dass sie einen Platz in der Politik haben und ihre Stimme gehört werden kann.
Diese negativen Auswirkungen müssen adressiert werden – ganz besonders vor dem Hintergrund des 21. Bundestages, in dem rechte Parteien eine große Rolle einnehmen. Hierzu ist politischer Wille erforderlich – der Wille der Parteien, ihre Strukturen und Programme zu verändern und zugunsten von Menschen mit Behinderungen zu öffnen. Gleichzeitig könnten aber auch gesetzliche Vorgaben zum Einsatz kommen, sodass die Einbeziehung von Politiker:innen mit Behinderung nicht von der politischen Gesinnung der Parteien abhängt. Eine Möglichkeit der gesetzlichen Veränderung ist die Einführung einer Quote, die bislang noch nicht ernsthaft auf politischer Ebene diskutiert wurde.
Die Abhängigkeit der inklusiven Ansätze von der politischen Gesinnung der Parteien zeigt darüber hinaus: Wir alle haben immer wieder die Wahl. Auch im Hinblick auf Inklusion.

Links zum Thema
- Broschüre Bundestag barrierefrei – Informieren, besuchen, arbeiten
- Deutscher Bundestag: Beschäftigungssituation von Menschen mit Behinderungen im Bundeskanzleramt, in Bundesministerien und Bundesbehörden
- Studie Vielfalt sucht Repräsentation – Amts- und Mandatsträger*innen in der Kommunalpolitik
- Süddeutsche Zeitung: Volk und Vertreter
- Zeit Online (Z+): Wie gut passt der Bundestag zum Volk?