
Schöne heile inklusive Welt, meint der Roboter.
Bild: AI-generiert von Franz Bachinger auf Pixabay
Alles wird immer inklusiver. Oder?
Neukölln ist sehr inklusiv. Hier gibt es zum Beispiel einen Inklusionschor, in dem Menschen mit Behinderungen gemeinsam mit ihren Unterstützungspersonen singen. Zudem erlebten wir in Berlin gerade die Special Olympics – Sportschau und RBB zufolge „ein Mega-Event für Berlin im Zeichen der Inklusion“. Auch in Bayern wird Inklusion großgeschrieben. So verkündete Horst Seehofer bereits 2013, dass der gesamte Freistaat zehn Jahre später barrierefrei sein würde. Voller Vorfreude bleibt zu fragen: Wann wird es endlich 2023?
Das Buzzword der Inklusion fällt häufig in solchen Zusammenhängen, in denen von Angeboten für Menschen mit Behinderungen oder zum Beispiel von Barrierefreiheit die Rede ist. Aber passt der Begriff hier? Was meint er genau? Und warum spricht niemand mehr von Integration?
Geschichte: von der Exklusion zur Inklusion – zumindest in Begriffen
In Bezug auf die gesellschaftliche Situation unterschiedlicher Gruppen ist immer wieder von Integration und Inklusion die Rede. Meint man das Gegenteil dieser Konzepte oder spricht über die Vergangenheit, fallen häufiger die Begriffe Exklusion oder Separation. Geschichtlich, so der Schweizer Heilpädagoge Alois Bürli (1997; Theunissen & Schwalb, 2018), lassen sich für den Umgang der Gesellschaft mit Menschen mit Behinderung ab dem 19. Jahrhundert in Europa und den USA vier Phasen beschreiben, die er mit diesen vier Begriffen belegt: Exklusion, Separation, Integration und Inklusion.
Phase 1: Exklusion – „Ausschließen“
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten Menschen, die als behindert oder abweichend wahrgenommen wurden, Bürli zufolge kaum Möglichkeiten der Teilhabe und Teilnahme an Gesellschaft. Stattdessen wurden sie von den gesellschaftlichen Systemen und Strukturen weitgehend ausgenommen. In dieser Phase wurden normabweichende Personen tendenziell weggeschlossen – in Anstalten oder im familiären Zuhause.
Phase 2: Segregation – „Aussondern“
Auf die Phase des Ausschlusses folgte eine Zeit der Fürsorge – die aber weiterhin klare Grenzen nach körperlichen und mentalen Fähigkeiten zog. Menschen mit diagnostizierten Behinderungen oder psychischen Erkrankungen wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in besonderen Einrichtungen „versorgt“ oder auch „erzogen“. Oft ging es dabei darum, Menschen zu „heilen“ oder auch für die Gesellschaft „brauchbarer“ zu machen.
Viele konnten diesen Bildungsansprüchen, die oft durch christliche „Nächstenliebe“ begründet wurden, aber nicht entsprechen. Daher teilte das System der Fürsorge seine Einrichtungen nach und nach auf: Einige dienten der Bildung, während in anderen Menschen gepflegt wurden, die als „nicht bildbar“ galten.
Die Extremform dieses „Aussonderns“ waren Hitlers Strategien in Nazi-Deutschland. Für die Nationalsozialist:innen waren Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen „lebensunwertes Leben“. 1939 bedeutet Hitlers „Euthanasie-Erlass“ für Tausende den Tod: In Heimen, Anstalten und Krankenhäusern werden sie durch Nahrungsentzug, Medikamente oder quälende medizinische „Tests“ ermordet.
Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts wurden Systeme der Segregation in Europa insgesamt zunehmend kritisiert. Die Kritik richtete sich vor allem auf Anstalten und Heime, die mit uneingeschränkter Kontrolle alle Lebensbereiche der Bewohner:innen regelten – die „totalen Institutionen“ (Goffman, 2020 [1973]).
Phase 3: Integration – „Eingliedern“
Diese Kritik führte zur Phase der Integration: Menschen mit Behinderung sollten so gefördert werden, dass sie mit ihren individuellen Fähigkeiten und Interessen am gesellschaftlichen Leben teilnehmen konnten. Das Ziel war es also, Menschen in die Gesellschaft einzugliedern.
Dieser Prozess wurde in der Regel „top-down“ gedacht, sollte also von Fachkräften und politischen Entscheidungsträger:innen getragen werden. So stand der individuelle Mensch im Fokus, aber weiterhin aus einer defizitären Perspektive. Die Barrieren der Gesellschaft wurden nicht hinterfragt. Hier setzte die Neuorientierung zur Inklusion an.
Phase 4: Inklusion – „Einschließen“
Der Grundgedanke der Inklusionsbewegung ab den 1990er-Jahren ist eine Umverteilung von Macht: Statt fremdbestimmt zu leben, sollen Menschen unabhängig von ihrer Behinderung als Expert:innen in eigener Sache über Ihre Lebensumstände entscheiden. Inklusion fokussiert damit das Recht aller Menschen auf ein selbstbestimmtes Leben in der Gesellschaft. Sie folgt den Prinzipien des Empowerments.

Die Gesellschaft auf dem Weg von der Exklusion zur Integration
Bild: Robert Aehnelt, Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0
Empowerment
„Empowerment beschreibt Mut machende Prozesse der Selbstbemächtigung, in denen Menschen in Situationen des Mangels, der Benachteiligung oder der gesellschaftlichen Ausgrenzung beginnen, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, neue Kräfte entwickeln und ihre individuellen und kollektiven Ressourcen zu einer selbstbestimmten Lebensführung nutzen lernen.“ (Herriger, 2022)
Wegweisend war für Inklusion erstens die Salamanca-Konferenz von 1994. Nach dieser 4-tägigen, durch die UNESCO organisierten Konferenz unterzeichneten 92 Staaten die Erklärung über Inklusion. Das Dokument formulierte internationale Richtlinien für inklusive Schulbildung und die Grundideen inklusiver Pädagogik.
Ein zweiter wichtiger Moment war die Verabschiedung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) von 2006. Mit dieser sogenannten Behindertenrechtskonvention verankerte die UN-Generalversammlung Inklusion als Menschenrecht und bezog sich dabei auf verschiedene Gesellschaftsbereiche – unter anderem auf den Zugang zur Justiz, auf Bildung, Gesundheit und Wahlrecht
Inklusion statt Integration in der UN-BRK
Inklusion: nicht den Menschen verändern, sondern das System
Mit Inklusion bezeichnet man die selbstverständliche Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens als gleichberechtigte Bürger und Bürgerinnen.
Inklusion durch „spezielle Angebote“ – geht das überhaupt?
Mit dieser Frage ist das Grundproblem auf den Punkt gebracht. Die Frage lässt sich für Inklusionschöre ebenso stellen wie für die Special Olympics und andere Programme, die Inklusion fördern wollen, sich aber speziell an Menschen mit Behinderungen richten. Der Grundgedanke, das Ziel der Inklusion ist eine andere Gesellschaft – nicht eine Veränderung des Einzelnen.
Daher sind Angebote, die sich nur oder vorrangig an Menschen mit Behinderungen richten, an sich nicht inklusiv. Häufig wird jedoch auch für solche Projekte der Begriff der Inklusion genutzt, obwohl es eigentlich um Integration geht: Menschen so gefördert oder ‚verändert‘ werden, dass sie an bestehenden Systemen teilhaben, sich also integrieren können. Der Begriff „Integration“ wird dann einfach durch „Inklusion“ ersetzt, ohne dass sich wirklich etwas verändert. Auch dies schildert das Bundesministerium:
Während in der Diskussion über Integration häufig darüber gestritten wurde, wie aus der ‚Besonderung‘ behinderter Menschen heraus Begegnungen mit nichtbehinderten Menschen ermöglicht werden können, sucht die Inklusion nach Wegen, Ausgrenzungen von vorneherein zu vermeiden.
Wenn über Inklusion in der Schule berichtet wird – geht es konkret um Bildungsgerechtigkeit für behinderte Schüler*innen. Wenn über inklusives Wohnen diskutiert wird, dann sollte eigentlich über Selbstbestimmung und Teilhabe geredet werden. Und wenn über inklusive Sportgruppen geschrieben wird, an denen behinderte und nicht behinderte Sportler*innen teilnehmen – dann geht es tatsächlich um Empowerment für alle durch gemeinsame sportliche Erlebnisse.
Raul Krauthausen
Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit
Fazit: Der Unterschied zwischen Integration und Inklusion ist wesentlich – aber beide können zu Schlagwörtern werden
Konkret bedeutet das: Inklusive Projekte tragen zum Abbau von Sonderlösungen für Menschen mit Behinderungen bei und beziehen sie als Expert:innen in eigener Sache von Anfang an ein – oder werden durch sie organisiert und getragen. Das gilt auch und ganz besonders für Entscheidungsprozesse innerhalb der eigenen Organisation.
Auf zahlreiche Angebote für Menschen mit Behinderung trifft dies aber weniger zu, denn sie sind selbst Sonderlösungen. Dazu zählen – von ihrer Grundstruktur her – zum Beispiel auch Werkstätten für Menschen mit Behinderung, Förderschulen oder auch Freizeitangebote, die sich speziell an Menschen mit Behinderung richten. Im Einzelnen mögen diese Projekte sich förderlich auswirken, da darin zum Beispiel bestimmte Fähigkeiten unterrichtet werden und neue Begegnungen stattfinden – als „inklusiv“ können sie aber in der Regel nicht bezeichnet werden, sondern – wenn überhaupt – als integrativ. Das liegt auch daran, dass Inklusion nicht der Weg ist – sondern das Ziel:
Dabei ist Inklusion […] ein Ideal. Das klingt härter als es ist, denn in der Geschichte der Menschheit gab es viele weit entfernte Ideale, die Wirklichkeit wurden. Seit 1984 dürfen Frauen in Liechtenstein wählen, seit 1994 ist Homosexualität in Deutschland nicht mehr strafbar. Können wir erreichen, dass Schulen 2024 barrierefrei sein müssen?
Raul Krauthausen
Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit

Bislang eher ein schönes Papiermodell: die inklusive Gesellschaft
Foto: Katie Rainbow
Weiterlesen? Literatur
Aguayo-Krauthausen, R. (2023). Wer Inklusion will, findet einen Weg: Wer sie nicht will, findet Ausreden. Rowohlt Polaris.
Bürli, A. (1997). Sonderpädagogik international. Vergleiche, Tendenzen, Perspektiven. Ed. SZH/SPC.
Goffman, E. (2020). Asyle: Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen (N. T. Lindquist, Übers.; 22. Auflage). Suhrkamp Verlag. Herriger, N. (2022). Empowerment. https://www.socialnet.de/lexikon/Empowerment
Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen. (2018). Inklusion unter der Lupe. Bericht zum Inklusionskataster NRW (1. Projektphase 2015—2018). https://www.mags.nrw/sites/default/files/asset/document/inklusion_unter_der_lupe-bericht_zum_inklusionskataster_nrw-1_projektphase.pdf
Theunissen, G., & Schwalb, H. (2018). Einführung: Von der Integration zur Inklusion im Sinne von Empowerment. In H. Schwalb & G. Theunissen (Hrsg.), Inklusion, Partizipation und Empowerment in der Behindertenarbeit: Best-Practice-Beispiele: Wohnen—Leben—Arbeit—Freizeit (3., aktualisierte Auflage, S. 11–36). Verlag W. Kohlhammer.