Was braucht es, um Persönliche Assistenz im Organisationsmodell stimmig umzusetzen? Ina Frixel ist Fachberaterin für Persönliche Assistenz bei der Phönix – Soziale Dienste – gGmbH. Im Interview spricht sie über Ansprüche und Herausforderungen des Konzepts. Und berichtet aus ihrer Erfahrung damit, dass Assistenznehmende, Assistenzkräfte und weitere Beteiligte oft unterschiedliche Ideen davon haben, was gute Assistenz ausmacht.
MM: Ina, wie würdest Du Deinen Beruf, Deine Aufgabe beschreiben?
IF: Ich berate Assistenznehmende, Mitarbeitende und Leitung bei Phönix dazu, wie Persönliche Assistenz umgesetzt werden kann und mache auf die verschiedenen Ausprägungen des Konzeptes aufmerksam. Ich versuche, auf Missverständnisse und Fehlinterpretierungen hinzuweisen und lasse damit unterschiedliche Perspektiven sichtbar werden. Gleichzeitig will ich aufzeigen, dass das Konzept immer individuell auf einzelne Assistenznehmende angepasst werden muss, damit ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht werden kann.
MM: Du arbeitest also mit vielen verschiedenen Beteiligten an der Assistenz zusammen: mit den Assistent:innen, mit den Assistenznehmenden, Führungskräften, den Behörden und so weiter. Was denkst Du, bedeutet Assistenz für sie?
IF: Der Blick auf die Persönliche Assistenz kann sehr unterschiedlich sein. Ein Perspektivwechsel lohnt sich immer, auch um ein besseres Verständnis zu bekommen und um Verantwortung aufzuzeigen. Selbstbestimmung kann auch ganz verschieden wahrgenommen werden. Man begegnet zum Beispiel selten dem klassischen Assistenznehmenden, der sagt: Meine Assistent:innen sind mein verlängerter Arm, mein verlängertes Bein. Alles wird gemacht, wie ich es möchte, und ich habe auch die Verantwortung, dass es meinen Assistenzkräften gut geht.
Ina Frixel vor ihrem Arbeitsplatz
Foto: Alexander von Piechowski
MM: Das, was man Regiekompetenz nennt.
IF: Genau. Man muss da immer offen sein. Jeder Mensch mit Behinderung hat die Möglichkeit, mit Persönlicher Assistenz zu leben, und trotzdem müssen wir das Angebot ein wenig modifizieren. Personen mit einer kognitiven Beeinträchtigung können vielleicht nicht alles klar äußern, trotzdem aber einige Dinge ansagen. Wir geben dann vielleicht Optionen und fragen mehr nach. Dabei ist es immer ein Spagat, nicht zu pädagogisch zu sein. Es gibt auch Assistenznehmende, die das Arbeitgebermodell wählen, anderen ist z.B. die Organisation ihrer Dienste zu viel Aufwand und sie bleiben bei den Anbietern der Persönlichen Assistenz. Das kann ich auch nachvollziehen.
Persönliche Assistenz: Arbeitgeber- vs. Organisationsmodell
Im Arbeitgebermodell übernehmen Assistenznehmende die Organisation ihres Assistenzteams. Sie sind für Einstellung und Anleitung zuständig, erledigen Personalsuche, Vertragsverhandlungen, Einsatzplanung und Gehaltsabrechnung. Dies bietet Flexibilität und Autonomie, bedeutet jedoch einen hohen Aufwand.
Im Dienstleistungs- oder Organisationsmodell übernimmt eine externe Organisation die Arbeitgeberrolle. Sie stellt Assistenzkräfte ein, organisiert Einsätze und übernimmt Lohnabrechnung und Versicherung. Assistenznehmende konzentrieren sich auf ihre Bedürfnisse und einzelne Aspekte der Koordination. Das Modell verringert die individuellen Anpassungsmöglichkeiten, entlastet aber von administrativen Aufgaben.
Selbstverantwortung statt Selbstbestimmung
MM: Im Organisationsmodell gibt man als Assistenznehmende:r einen Teil der Verantwortung ab. Dennoch soll Selbstbestimmung gewährleistet werden. Was ist dazu wichtig?
IF: Ich würde lieber den Begriff der Selbstverantwortung nehmen als den der Selbstbestimmung, weil letzterer auch so interpretierbar ist: „Es ist mein selbstbestimmtes Leben, es richtet sich alles nach meinen Willen. Aber Selbstverantwortung heißt: Ich nehme meine Verantwortung für mich und meine Umwelt wahr, dass ich nicht alles bestimmen kann, sondern muss mich auch an Regeln halten. Ich kann nicht nur sagen, „Komm, koch mir einen Kaffee“, sondern hab dafür zu sorgen, dass z.B. Kaffee da ist. Dazu muss man mit einkaufen gehen.
Trotzdem dürfen wir es nicht zu stoisch betrachten. Ich kannte mal eine Assistentin, die bei einer selbstbestimmten Assistenznehmerin arbeitete. Um 2 Uhr nachts wollte die Assistenznehmerin Zigaretten haben. Die Assistentin bestand darauf, mit der Assistenznehmerin zusammen Zigaretten zu holen, da in der Persönlichen Assistenz klassischerweise die Assistenznehmerin beim Einkaufen dabei sein sollte. Die Assistentin zog das durch und die Assistenznehmerin musste mitkommen. Klar – sie ist keine Wunscherfüllungsgehilfin, aber zwischenmenschlich war das schwierig.
MM: Sie handelte aber entgegen dem, was ihre Assistenznehmerin geäußert hatte.
IF: Ja, die wollte nur ihre Assistentin Zigaretten holen schicken. Und das ist genau der Spagat. Stellvertretend einfach nur Tätigkeiten zu erledigen, wäre eigentlich klassische Erbringung der Leistung nach Modulen. In der Assistenz macht man es zusammen, damit persönliche Ziele verfolgt werden. Assistent:innen sollten situativ abwägen und nicht statisch das Konzept betrachten, es lebt mit jedem etwas anders, daher auch die Unterstreichung Persönliche (!) Assistenz.
Und dann gibt es noch die Assistent:innen, die sich sehr fürsorglich verhalten und Tätigkeiten übernehmen: Ich weiß, was für Dich gut ist! Es ist meine Sorge, dass wir in der persönlichen Assistenz Menschen ihre Kompetenz nehmen, weil wir alles übernehmen.
MM: Die Person selbst ist dann nicht mehr beteiligt, außer damit, ihren Wunsch zu äußern.
IF: Richtig. Und alle Seiten müssen sensibilisiert werden. Hier gehe ich in die Auseinandersetzung mit dem Team und mit den Assistenznehmenden.
Ein anspruchsvolles Konzept in der Kommunikation
MM: Als alltägliche Herausforderung siehst Du also auch alles, was mit dem Zwischenmenschlichen, mit der Kommunikation zu tun hat, mit den eigenen Erwartungen und Empfindungen.
IF: Ich finde, Assistenz ist ein anspruchsvolles Konzept, insbesondere in der Kommunikation. Schon für Menschen, die keine Behinderung haben, ist es herausfordernd, Bedürfnisse oder Kritik zu äußern. Menschen mit einer Behinderung sollen nun das eigene Team von Assistent:innen anleiten und stets wissen, was sie wollen.
MM: Und das auch noch in einer Sphäre, die viel mit körperlicher Intimität zu tun hat.
IF: Absolut. Was, wenn zum Beispiel ein Streit oder eine Meinungsverschiedenheit in einer Körperpflegesituation anfängt. Man merkt vielleicht als Assistent:in nicht, dass man gerade eine Grenze überschreitet und hier braucht es eine Sensibilisierung. Zum Beispiel: Zwischen Assistent:in und Assistenznehmenden grummelt etwas, die Chemie stimmt zwischen beiden gerade nicht und es gibt eine Meinungsverschiedenheit – während die:der Assistenznehmende im Bett liegt, gewaschen oder das Inkontinenzmaterial gewechselt wird. Das sind kleine Momente, die immer wieder eine Reflexion und Sensibilisierung erfordern.
Die Arbeit in der Persönlichen Assistenz bedeutet, dass man in allen Bereichen präsent ist und unterstützt. Einerseits pflegerische Unterstützung leistet und andererseits alle privaten Themen des Assistenznehmenden mitbekommt. ‚Nur‘ professionell Helfende zu sein, ist gar nicht so einfach. Ich komme als Mensch dem Menschen, den ich unterstütze, einfach sehr nah.
„Immer wieder auch Beziehungsarbeit“
IF: Das Thema Nähe-Distanz ist insgesamt sehr wichtig. Wenn Assistent:innen viele Jahre bei einer Assistenznehmerin sind, frage ich manchmal: Was ist das Besondere? Wie könnt ihr die Zusammenarbeit so lange aufrechterhalten? Aber auch in solchen Teams, bei diesen Assistenznehmenden gibt es Reibungen, und das ist immer wieder Beziehungsarbeit. Es macht mir Freude, mit Assistenznehmenden zu reflektieren: Es ist auch Deine Leistung, dass Assistent:innen so lange bei Dir bleiben. Was denkst Du, hast Du dafür getan? Und mit Assistenzkräften: Wie habt ihr es geschafft, dass ihr so lange zusammenbleiben konntet?
Aber insgesamt ist mir aufgefallen, dass nach drei bis fünf Jahren häufig ein Wechsel notwendig ist, weil die Arbeit zu dicht wird oder bestimmte Reibungen entstehen können. Man kann nicht verlangen, dass man auf ewig zusammenarbeitet.
MM: Weil sich sonst Dynamiken einschleichen, die vielleicht nicht mehr so sehr die autonome Gestaltung ermöglichen.
„Persönliche Assistenz – dichter gehts nicht.“
IF: Ja. Persönliche Assistenz – dichter gehts nicht. Ich habe früher im Krankenhaus gearbeitet, da habe ich den Ablauf bestimmt: gesagt, dass jetzt Waschen dran ist. Dann war ich lange in der normalen Hauskrankenpflege. Dabei fragte man schon mehr nach, zum Beispiel: Darf ich den Schrank öffnen? Die Zeiten waren aber vorgegeben.
Und in der Persönlichen Assistenz muss ich mich deutlich mehr zurückhalten, nach dem Motto: „Du sagst mir, wo es langgeht“. Gleichzeitig ist man viele Stunden vor Ort und bekommt das ganze Leben von diesem Menschen mit: Beziehungen, Geschichte, Kontakte, einfach alles. In dieser Situation funktioniert man nicht nur professionell – wir zeigen uns als Menschen.
MM: Und andersherum gedacht, wird man zu einem elementaren und persönlichen Teil des Lebens der Klient:innen.
IF: Absolut. Das birgt auch die Gefahr, dass Assistenznehmende oft Assistent:innen als Freund:innen nutzen. Es ist auch schwer, als Mensch mit Behinderung außerhalb der Assistenz einen eigenen Freundeskreis zu finden. Diese Nähe in der Persönlichen Assistenz kann also auch Schwierigkeiten machen.
MM: Gerade im Hinblick auf die Autonomie und die Tatsache, dass Assistent:innen irgendwann wieder gehen.
IF: Ja, eine Trennung von einer sehr vertrauten Assistenzkraft kann sehr dramatisch sein. Deshalb finde ich wichtig, dass man auch das Angebot des BEW parallel nutzt. Sodass Assistenznehmende auch andere Personen an der Seite haben,, unabhängig von den Assistent:innen ihres Teams. Bei uns steht es nicht nur auf dem Blatt.
Persönliche Assistenz vs. Betreutes Einzelwohnen
Im Bereich der Persönlichen Assistenz erhalten Menschen mit Behinderung in ihrem Alltag durch mobile Teams Begleitung und Unterstützung – im eigenen Wohnumfeld und bei Bedarf rund um die Uhr. Assistenzkräfte absolvieren in der Regel einen Pflegebasiskurs.
Im Betreuten Einzelwohnen (BEW) unterstützen Fachkräfte (zum Beispiel aus der Sozialen Arbeit, Psychologie oder Heilerziehungspflege) Menschen einige Stunden pro Woche dabei, ihre selbstständige Lebensweise nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten und zu bewahren. Sie beraten und begleiten zum Beispiel bei behördlichen und medizinischen Themen, aber auch dazu, wie Pläne für die eigene Lebensgestaltung umgesetzt und Ziele verwirklicht werden können.
Als Assistenzkraft die eigene Motivation kennen
MM: Welche Sensibilitäten, welche Reflexionsfähigkeit sollte man als Assistenzkraft mitbringen, um diese dichte Beziehungsarbeit hinzubekommen?
IF: Es gibt einen Leitfaden für Persönliche Assistenz von Pauline Schneiberg. Darin wird es sehr gut auf den Punkt gebracht und ich würde es so unterstreichen: Man muss zuhören können, Toleranz haben für Unterschiedlichkeiten. Man muss sich selbst im Hintergrund halten können, aufmerksam, pünktlich und konfliktfähig sein. Es ist auch wichtig, die eigenen Grenzen zu kennen, offen, ehrlich und respektvoll zu handeln und sich auseinanderzusetzen mit der eigenen Motivation, diese Arbeit auszuüben.
MM: Inwiefern sollte man die eigene Motivation hinterfragen?
IF: Viele sagen, sie wollen einfach helfen oder gut sein. Worum geht es da genau? Man muss das hinterfragen, weil man enttäuscht werden kann. Auch ein Mensch mit Behinderung ist nur ein Mensch, der schlechte Tage haben kann, der auch herausfordernd sein kann und der sich vielleicht nicht ständig bedanken möchte.
Partnerschaftlichkeit und Kontinuität
IF: Persönliche Assistenz setzt eben auch immer eine gewisse Augenhöhe und Partnerschaftlichkeit voraus. Man ist ein Team miteinander.
MM: Vertrautheit, langfristige Begleitung.
IF: Genau. Kontinuität, Sicherheit. Man findet aber seitens der Assistenznehmenden selten noch Ikonen wie Matthias Vernaldi. Das waren klassische Verfechter:innen, die für die Persönliche Assistenz gekämpft haben. Mehrere Menschen mit Behinderungen haben in den 1980er- und 1990er-Jahren um die Persönliche Assistenz gekämpft, haben sich unter anderem beim Bezirksamt in Berlin angekettet, um zu sagen: ‚Wir sind Expert:innen in eigner Sache! Wir möchten über unser Leben selbst bestimmen! Wir gehören nicht in die Pflegeversicherung, unsere Bedürfnisse finden sich in keinen Einzelmodulen wieder, nur mit Persönlicher Assistenz ist eine selbstbestimmte Gestaltung unseres Lebens möglich. Von diesen Kämpfen wissen jüngere Asistenznehmende oft gar nichts mehr. Das Angebot der Persönlichen Assistenz ist selbstverständlich geworden. Die Persönliche Assistenz ist aber nicht einfach so entstanden, sie wurde hart erkämpft von Menschen mit Behinderungen und ihren Unterstützer:innen.
MM: Jüngere Assistenznehmende nehmen also Assistenz manchmal eher als selbstverständlich gegebene Struktur wahr?
IF: Ja, und dann kommt das Wunscherfüllungsprogramm: Jetzt bin ich ausgezogen von Mutti, habe endlich Assistent:innen und die wischen in meiner Wohnung, machen meinen Haushalt. Die Selbstverantwortung, dass ein erster Einzug in eine Wohnung auch erst mal Arbeit macht, dass es normal ist, dass ich mich erst einmal kümmern muss, dass sehen sie manchmal nicht.
Aber das gilt für beide Seiten. Eine Assistentin kann nicht einfach um 22 Uhr gehen, obwohl der Dienst bis 24 Uhr geht. Das passiert eben auch. Oder ein Assistent bringt seinen Hund mit, und der Assistenznehmende stimmt zu, obwohl er eigentlich Angst vor dem Hund hat und das nicht will, aber er will unbedingt, dass dieser Assistent kommt, weil er ihn mag. Das können Erfahrungen sein, die Reflexion und letztlich Veränderung erfordern.
Sensibilisierung schaffen
MM: Ich verstehe diese Themen, über die Du sprichst, als Spannungsfelder, die immer wieder und immer neu zwischen den Beteiligten ausgehandelt werden müssen.
IF: Das Modell der Persönlichen Assistenz impliziert, dass Assistenznehmende eine Regiekompetenz haben (Personal-, Anleitungs-, Finanz- und Organisationskompetenz), das heißt, er:sie entscheidet, wer, was, wann, wo und wie macht. Viele Menschen mit kognitiven oder neurologischen Beeinträchtigungen haben oftmals nicht mehr alle Kompetenzen und sind dann evtl. nicht mehr inbegriffen. Ich habe darüber Diskussionen mit Kostenträgern gehabt. Aber ich finde es wichtig, dass man intern im Assistenzdienst eine Sensibilisierung schafft und alle Assistenznehmenden individuell und flexibel unterstützt. So ist man bei einem Assistenznehmenden wirklich nur der verlängerte Arm und bei einem anderen Assistenznehmenden muss es Angebote geben. Das ist ein Zusammenspiel von Vielem.
MM: Was denkst Du, ist dabei die Verantwortung der Organisation? Wie soll sie handeln, um diese Prozesse zu begleiten?
IF: Einerseits finde ich es ganz wichtig, dass die Dienstleistung, die erbracht wird, reflektiert wird. Dass man die eigene Leistungserbringung dahingehend hinterfragt, ob es allen damit gut geht. Und andererseits erlebe ich, dass es gerade in WGs, in denen mehrere Assistenznehmende zusammenleben, viel um Fürsorge geht. Ich habe mich mal in einer WG erschrocken, weil dort ein Plan mit den Namen der Assistenznehmenden hing, auf denen ihre Tagesaktivitäten vermerkt sind. Das war so fremd für mich.
MM: Weil das von dem individuellen Lebenskonzept ganz weit entfernt ist und Dich mehr an eine Institution erinnert hat? Das meinst Du mit Fürsorge – veraltete Konzepte?
IF: Richtig, es hat mich an den stationären Bereich erinnert. Es ist nicht mehr individuell, die Assistent:innen kümmern sich um alles und weder Assistent:in noch Assistenznehmende hinterfragen anscheinend das Ganze. Ich denke, es ist möglich, dass auch in einer WG Persönliche Assistenz individuell organisiert werden kann, dass sich Assistenznehmende spontan entscheiden, worauf sie Lust haben. So ist das Leben.
Individuelle Wohnformen stärken
MM: Vorhin hast Du auch über WGs von mehreren Assistenznehmenden gesprochen. Kann man das so zusammenfassen: In dem Moment, in dem Menschen zusammenleben und Assistenz erhalten, besteht erst einmal ein Risiko?
IF: Ich denke ja. Man muss auch betrachten, wie eine WG üblicherweise organisiert ist. Man sucht sich eigentlich aus, mit wem man zusammenlebt, ob man zusammenpasst. Aber oftmals leben in WGs mit Persönlicher Assistenz Menschen zusammen, die sich das nicht unbedingt ausgesucht haben.
MM: Das heißt, die Organisation hat erst einmal die Verantwortung, individuelle Wohnformen zu ermöglichen.
IF: Und da sind das BTHG und das WTG maßgebend. Diese Gesetze unterstützen Menschen mit Behinderungen. Das finde ich gut, aber es müssen jetzt auch noch mal Konzepte entwickelt werden. Denn diese Gesetze fördern Individualität und Teilhabe, sie gehen weg vom klassischen Früh-mittags-abends-Programm. In das SGB IX und in den Berliner Rahmenvertrag ist explizit aufgenommen worden, was Persönliche Assistenz bedeutet: dass ich einen Anspruch darauf habe und meine Verrichtungen so haben darf, wie ich will.
Wichtige Gesetze für Persönliche Assistenz
Das BTHG (Bundesteilhabegesetz) soll die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen verbessern. Es regelt beispielsweise die Anspruchsvoraussetzungen, Leistungsumfang und Qualitätsstandards der Assistenz und bildet die Grundlage ihrer Finanzierung.
Das WTG (Berliner Wohnteilhabegesetz) soll ältere, pflegebedürftige oder behinderte volljährige Menschen schützen, die in stationären Einrichtungen oder in betreuten Wohngemeinschaften leben. Daher ist es auch für Menschen relevant, die Assistenz in WGs mit mehreren Assistenznehmenden erhalten.
Das SGB IX (Sozialgesetzbuch IX) enthält Vorschriften zur Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung bzw. Menschen, die von Behinderung bedroht sind. In § 78 SGB IX werden Assistenzleistungen grundlegend beschrieben. Sie sollen u. a. Unterstützung bei der Haushaltsführung, Gestaltung sozialer Beziehungen, Teilhabe am gemeinschaftlichen Leben und Gesundheit umfassen.
Persönliche Assistenz ist teamgebunden
IF: Sicherlich gilt das generell in der Pflege: Die Haltungsfrage gehört überall hin. Aber hier ist es noch mal mehr. Ich glaube, es ist auch mein Job, immer wieder diesen Appell zu machen: Wir müssen das Besondere der Persönlichen Assistenz immer wieder als Fahne hochhalten. Auch wenn Dienste manchmal schwer besetzt werden können, ist es unser Anspruch, ein festes Team zu haben. Wir dürfen uns nicht zurücklehnen, weil es Leasing gibt. Persönliche Assistenz kann eigentlich nur gelebt werden, wenn der Persönliche Assistent kommt.
MM: Meinst Du damit: die persönlich durch Klient:innen ausgewählte Assistenzkraft?
IF: Ja, und zudem haben sie sich miteinander gefunden, arbeiten miteinander, kennen sich. Die Assistenz kennt die Abläufe und Prozesse des Assistenznehmenden. Der Assistenznehmende kennt die Assistenzkraft und weiß, wie er sie zu nehmen hat. Das macht Persönliche Assistenz aus: Sie ist teamgebunden.
MM: Wie lässt sich das angesichts des Fachkräftemangels noch realisieren?
IF: Persönliche Assistenz kann in meinen Augen nur gut gelebt werden, wenn Assistenznehmende ihr Team fester Assistent:innen haben. Das ist natürlich schwierig mit Leasingkräften und Vertretungsdiensten. Das ist unsere Herausforderung, trotz Personalmangel immer wieder an die Haltung der Persönlichen Assistenz zu appellieren. Wir versuchen mit Schulungen und Einarbeitungen von Anfang an unser Konzept der Persönlichen Assistenz aufzuzeigen.
Assistenz zwischen politischem Kampf und Selbstverständlichkeit
MM: Du hast vorhin gesagt: Man findet nicht mehr so oft diese großen Ikonen wie Matthias Vernaldi. Assistenz kommt ja aus einer Protestbewegung einschließlich der Independent-Living- und der Krüppelbewegung. Wie hat sich das Deiner Ansicht nach über die Jahre verändert? Was ist mit der Assistenz passiert?
IF: Sie ist ein Stück weit selbstverständlich geworden: Man hat einen Anspruch darauf und Institutionen unterstützen Menschen mit Behinderung dabei, diesen umzusetzen. Der Kampf ist also nicht mehr so stark. Vielleicht kommt er noch mal, wenn die Kassen wieder knapper werden, was ich jedoch nicht hoffe.
Aber wir hatten auch Zeiten, in denen wir um jede Stunde gekämpft haben und eine 24-Stunden-Assistenz fast unmöglich war. Dadurch, dass Assistenz heute bekannter ist, muss man nicht mehr diesen absoluten Kampf führen. Das heißt, Menschen bekommen die Leistung und haben dann bis zu 24 Stunden jemanden an ihrer Seite. In Berlin ist das Konzept verstanden worden und es gibt eine zentrale Stelle im Lageso, das ‚Fachamt für die Persönliche Assistenz‘. Eine Auseinandersetzung, was Persönliche Assistenz eigentlich ist, findet eher noch bei Kostenträgern statt, die außerhalb von Berlin sind.
Von der Pflege zur Assistenz
MM: Lass uns abschließend kurz über Dich und Deine Geschichte in diesem Bereich sprechen. Du kennst den Beginn der Persönlichen Assistenz und hast auch den Anfang ihrer Verstetigung miterlebt. Jetzt erfährst Du die Herausforderungen dieser Etablierung. Wie war eigentlich Dein Werdegang, wie bist Du zur Assistenz gekommen?
IF: Vom Beruf bin ich Krankenschwester und habe mehrere Weiterbildungen, unter anderem zur Pflegedienstleitung und zur Systemischen Therapeutin (DGSF). Im Jahr 2000 habe ich bei einem gerade gegründeten Assistenzdienst als Pflegedienstleitung angefangen. Und hier habe ich mit großen Augen Assistent:innen kennengelernt, die einen schwerstmehrfachbehinderten Menschen einfach ins Kanu gesetzt haben oder zusammen im Wohnmobil durch Rumänien gefahren sind. Ich war total begeistert und damit hat sich für mich eine neue Welt eröffnet. Von Anfang an setzte ich mich voller Leidenschaft für das Modell der Persönlichen Assistenz ein und bis heute bin ich absolut überzeugt davon.
MM: Das war damals das Gegenteil der institutionellen Versorgung.
IF: Ja, es war schön, etwas anderes zu erfahren. Aber es war teilweise auch eine harte Auseinandersetzung mit Assistenznehmenden, die zum Beispiel ihre Pflegedokumentation zerrissen haben, weil diese leider nur auf ihre Defizite verwies. Es war ein langer Prozess und schwieriger Spagat, einerseits die Auflagen des MDKs (Medizinischer Dienst der Krankenkassen) zu erfüllen und andererseits das Konzept der Persönlichen Assistenz gut zu leben. Es ist wichtig, das einzuhalten, was die Persönliche Assistenz vorsieht, zum Beispiel keine lückenlose Dokumentation der Lebensführung. Die Errungenschaft ist, dass nicht aufgeschrieben wird, wann jemand aufsteht oder auf die Toilette geht, sondern nur etwas zu dokumentieren, wenn es zum Beispiel um Krankenbeobachtung geht. Ich kann mich erinnern, wie viele Gespräche ich mit Assistenznehmenden führte und dabei und immer mehr verstand, wie ein Pflegedienst, der Persönliche Assistenz anbietet, sich auch bewegen muss, um die Anforderungen des Modells zu erfüllen.
Selbstbestimmung muss mehr als eine Überschrift sein
MM: Was ist Dir an Deiner jetzigen Tätigkeit als Fachberatung für Persönliche Assistenz noch besonders wichtig?
IF: Ich liebe an meinem Beruf, verschiedene Perspektiven aufzuzeigen, und so sehe ich es als meine Aufgabe, zwischen Rollen zu vermitteln. Ich möchte dafür werben, nicht vehement eine Position zu besetzen, sondern zu sagen: Stellt euch mal vor, ihr seid zum Beispiel Assistenznehmer:in, Assistent:in, Leitung oder Kostenträger, wie würdet ihr in der Position handeln, was wäre euch wichtig? Das sehe ich als meinen Job und wünsche mir, dass so mehr Verständnis und Annäherung passiert. Nur so kann das Konzept lebendig und flexibel bleiben.
Ich möchte, dass Selbstbestimmung nicht nur als Überschrift dasteht, sondern dass sie auch gelebt wird. Und das sage ich seit mittlerweile 22 Jahren: Wir leben das wirklich, bei uns steht es nicht nur auf dem Blatt.