Künstliche Intelligenz verändert den Arbeitsalltag – auch für viele Menschen, die infolge einer Behinderung mit Barrieren im Job konfrontiert sind. Innovative KI-Tools wie intelligente Sehhilfen, sprachgesteuerte Assistenten und digitale Unterstützungssysteme eröffnen neue Möglichkeiten für Inklusion und Selbstständigkeit am Arbeitsplatz. Doch neben den vielversprechenden Chancen gilt es auch, Risiken und ethische Fragen im Blick zu behalten.

Wird die Künstliche Intelligenz meine Kollegin oder meine Konkurrentin? Diese Frage stellen sich seit 2023 viele Berufstätige, die KI-Tools im Job nutzen. Laut den Ergebnissen einer Umfrage des Wirtschaftsprüfungsunternehmens PwC von September 2024 tun das in Deutschland rund 38%.  Auch fast die Hälfte der deutschen Firmen (45%) greift systematisch auf KI zurück. Ihre Beschäftigten schätzen daran, dass sich in vielen Fällen die Bearbeitungszeit von Aufgaben verkürzt. Andererseits befürchten 4 von 10 befragten Arbeitskräften, dass ihr Job durch die KI wegfallen könnte.

Dieses Dilemma steht stellvertretend für zahlreiche soziale Fragen, die mit dem Aufkommen von KI auf dem Arbeitsmarkt verbunden sind. Für viele Menschen, die im Zusammenhang mit einer Behinderung auf dem Arbeitsmarkt mit Barrieren konfrontiert sind, stellen sich diese Fragen verschärft.

Und Barrieren gibt es genug. Das resümiert auch das Inklusionsbarometer Arbeit von Aktion Mensch und dem Handelsblatt Research Institute. Die 2024 veröffentlichten Ergebnisse der Studie zeigen, dass sich Inklusion auf dem Arbeitsmarkt zuletzt eher verschlechtert hat:

Immer mehr Unternehmen kommen ihrer gesetzlichen Pflicht, Menschen mit Behinderung zu beschäftigen, nicht nach. Inklusion auf dem Arbeitsmarkt macht also auch 15 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechts­konvention, in der das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe auch auf dem Arbeitsmarkt verankert ist, keine Fortschritte.

Inklusionsbarometer Arbeit
Aktion Mensch und Handelsblatt Research Institute

Welche neuen Chancen bieten sich vor diesem Hintergrund durch KI? Wie kann sie Menschen mit Behinderungen effektiv am Arbeitsplatz unterstützen? Wie könnte sie sich auf Inklusion auf dem Arbeitsmarkt auswirken? Um diesen Fragen nachzugehen, stellt der Beitrag drei Arten von KI-Tools vor, die Support am Arbeitsplatz bieten: KI-basierte Sehhilfen, sprachgesteuerte Assistenten und digitale Assistenzsysteme. Abschließend werden Chancen und Risiken abgewogen.

KI-Assistenztechnologien im Einsatz

KI-basierte Sehhilfen wie die OrCam

KI-basierte Sehhilfen bieten blinden und sehbeeinträchtigten Menschen Assistenz im Alltag. Über Kameras erkennen sie beispielsweise Gesichter oder Produkte und beschreiben diese über kleine Lautsprecher oder Kopfhörer für die Person. Die Tools können aber auch bei der Navigation durch die Arbeitsumgebung unterstützen, indem sie helfen, sich in neuen Räumen zurechtzufinden und Hindernisse zu umgehen.

Ein Beispiel für ein solches Werkzeug bildet die OrCam MyEye 2.0. In etwa so groß wie ein USB-Stick, wird die OrCam seitlich an eine Brille angeklemmt und verfügt über einen integrierten Lautsprecher. Damit kann sie beispielsweise Arbeitskolleg:innen und Kund:innen identifizieren oder beschreiben und dabei zwischen bekannten und unbekannten Gesichtern unterscheiden.

Darüber hinaus liest die OrCam Texte vor – egal, ob diese digital, gedruckt oder beispielsweise auf Türschildern vorliegen. Auch Barcodes an Produkten können eingelesen und Objekte erkannt werden, was die Orientierung am Arbeitsplatz erleichtert.

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Mit einem Verkaufspreis von über 4000€ ist die OrCam ein teures Hilfsmittel. Seit einem Gerichtsurteil im Jahr 2023 wird sie jedoch unter bestimmten Voraussetzungen von den Krankenkassen übernommen.

Wie schätzen Betroffene die Qualität des Hilfsmittels ein? Laut des Erfahrungsberichts eines österreichischen Blinden- und Sehbehindertenverbands kann das Tool nach einer gewissen Lernzeit eine große Hilfe im Alltag sein. Kritischer schätzt Stephan Merk das Gerät nach einem Selbsttest ein, wie auf seinem Blog merkst.de nachzulesen ist. Merk zufolge haben die vielversprechenden Funktionen des Geräts in seinem Alltag häufig versagt. So funktionierte die Gesichtserkennung nicht in Menschenmengen – wo sie jedoch am wichtigsten gewesen wäre. Ein gemischtes Fazit zieht das AMD-Netz, eine Organisation für Menschen mit einer degenerativen Augenerkrankung. Ihm zufolge ist die OrCam insbesondere für Menschen mit einem Sehrest geeignet – da diese ihre Sicht nutzen können, um das Gerät zu steuern.

Sprachgesteuerte Arbeitsplatzassistenten wie VoiceItt

Vielen Menschen fällt es infolge einer chronischen Erkrankung, Behinderung oder Verletzung schwer, deutlich zu sprechen. So kann es beispielsweise für Betroffene von Multipler Sklerose oder den Folgen eines Schlaganfalls herausfordernd sein, mit Kund:innen und Kolleg:innen zu kommunizieren. Hier kommen sprachgesteuerte Arbeitsassistenten ins Spiel. Diese Systeme verstehen individuelle Spracheingaben und setzen sie in Aktionen um.

Ein Beispiel dafür bietet die App VoiceItt, die im Rahmen eines EU-geförderten Projekts entwickelt wurde. VoiceItt lernt zunächst im Laufe einer Trainingsphase mithilfe maschinellen Lernens, die individuelle Aussprache einer Person zu verstehen und zu übersetzen. Danach können diese Inhalte in verschiedenen Situationen genutzt werden, beispielsweise indem das Smartphone oder Tablet sie dem Gegenüber im Gespräch direkt vorliest.

Wie CNN Business berichtet, ist die App inzwischen jedoch auch darauf zugeschnitten, Arbeitskräfte im Homeoffice zu unterstützen. Neben dem reinen Diktieren von Dokumenten und E-Mails ist beispielsweise die Integration in Videokonferenzplattformen wie Zoom, Webex und Microsoft Teams möglich. Hier werden die Äußerungen der betreffenden Person dann unmittelbar untertitelt. Über eine Chrome-Extension lässt sich der Webbrowser steuern. Darüber hinaus kann VoiceItt mit anderen intelligenten Systemen interagieren, beispielsweise Fragen an ChatGPT oder Anweisungen an Google Home übersetzen.

Wie bewerten Nutzer:innen die App? Esther Klang hat die Anwendung im Auftrag des Herstellers getestet. Ihre Aussprache ist infolge einer Querschnittslähmung und unter anderem einer Stimmbandschwäche nicht immer für andere zu verstehen. Sie resümiert:

Ich bin so froh und begeistert, VoiceItt zu benutzen. Ich war schon immer neidisch auf Leute, die Sprache-zu-Text, Sprachdiktat und Sprachbefehle nutzen konnten, um Aufgaben zu erledigen und mit ihren intelligenten Assistenten zu kommunizieren. Ich glaube tatsächlich, dass die Spracheingabe das Schreiben viel produktiver, effizienter und bequemer macht. Außerdem kann man so seine Gedanken und Gefühle klären und sortieren, bevor man sie tatsächlich niederschreibt.

Esther Klang
VoiceItt-Review (übersetzt)

VoiceItt ist flexibel in der Anwendung: Es kann auf Smartphones, Tablets und Computern eingesetzt werden. Im Laufe der Trainingsphase stellt sich die App zudem auf die Sprache der Nutzer:innen ein. Die Benutzeroberfläche ist jedoch aktuell nur auf Englisch, Spanisch, Portugiesisch, Italienisch und Hebräisch verfügbar. Einen weiteren kritischen Diskussionspunkt bildet der Preis der Anwendung: Ein Abo kostet aktuell 49,90$ im Monat oder 499,90$ im Jahr.

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Digitale Assistenzsysteme wie XMake

Daneben gibt es umfassendere Unterstützungssysteme, die sich individuell an Mitarbeitende und Aufgaben anpassen lassen. Ihr Ziel ist es, Arbeitskräfte mithilfe von KI so durch Arbeitsprozesse zu begleiten, dass möglichst wenig Unterstützung durch Kolleg:innen oder Teamleitung notwendig ist. Sie können auch eingesetzt werden, um neue Aufgaben zu erlernen, beispielsweise in der industriellen Produktion.

Gerade in diesem Sektor greifen Firmen auf Tools wie TeamViewer XMake zurück. Dabei handelt es sich um Smart Glasses – in diesem Fall eine einseitige Brille, die am Ohr angeklemmt wird. Arbeitskräfte haben so die Hände frei, interagieren jedoch mit einem kleinen Bildschirm in ihrem Sichtfeld und können sich über den integrierten Lautsprecher Arbeitsanweisungen zu ihrer aktuellen Tätigkeit anhören.

XMake verfügt darüber hinaus über eine Kamera. Damit wird genau erkannt, an welchem Arbeitsschritt sich die Person gerade befindet und ob sie evtl. Fehler macht, auf die das Gerät dann hinweist.

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Die Brille und die dazugehörige Software werden von Firmen eingesetzt, um Prozesse zu optimieren und schneller zu gestalten. Eine entsprechende Marktlücke sieht der Hersteller dafür aktuell vor allem im Niedriglohnsektor: Indem Fertigungsprozesse in der Industrie beschleunigt werden, soll Deutschland wieder konkurrenzfähiger werden.
XMake ist also kein Werkzeug, das mit dem Ziel der Partizipation von Menschen mit Behinderung am Arbeitsmarkt entwickelt wurde. Dennoch wird es aktuell beispielsweise in Berufsbildungswerken unter dieser Zielsetzung erprobt. Die Idee: Wenn Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder Lernschwierigkeiten durch die speziell abgestimmte KI bei ihren Arbeitsprozessen begleitet werden, können sie komplexere Tätigkeiten und dadurch eine größere Vielfalt an Jobs übernehmen.

In diesem Sinne könnte XMake eine inklusive Wirkung entfalten. Offen sind viele Fragen dazu, wie es sich auf das Betriebsklima in Organisationen auswirken würde: Suchen Kolleg:innen seltener das Gespräch miteinander, wenn sie sich auf Assistenzsysteme verlassen? Wie verändert das die soziale Atmosphäre in der Organisation? Welche Möglichkeiten der Überwachung und Evaluation erlauben Assistenzsysteme, und wie fühlt sich dies für Arbeitskräfte an?

KI als Support für Arbeitnehmende mit Behinderung – Chancen und Risiken

Vorteile: Zeitersparnis und mehr Autonomie

Die Chancen von KI-gestützten Tools wie Sehhilfen, Sprachsteuerungen und Assistenzsystemen liegen auf der Hand: Sie ermöglichen vielen Menschen ein selbstständigeres Arbeiten. Wer weniger auf Unterstützung durch Kolleg:innen, Vorgesetzte oder Assistenzpersonen angewiesen ist, kann die eigene Arbeitszeit autonomer planen und gestalten.

Außerdem könnten Kosten für die zusätzliche Arbeitszeit der Unterstützungspersonen eingespart werden – was besonders dann zum Vorteil wird, wenn Betroffene die Kosten von Arbeitsassistenz selbst tragen müssen. Eine weitere Chance liegt in der Zeitersparnis. Wer beispielsweise aufgrund undeutlicher Sprache mehr Zeit für Kommunikation am Arbeitsplatz aufbringen muss, kann seine Arbeitsprozesse mit Sprachsystemen wie VoiceItt verkürzen.

Und schließlich könnten Assistenzsysteme wie XMake die Vorbehalte mancher Unternehmen verringern, behinderte Arbeitnehmer:innen einzustellen. Übernimmt die angelernte KI die Begleitung und Überprüfung der Arbeitskräfte, fallen für Firmen in der Industrie nicht zwangsläufig höhere Kosten an. Hier beginnen jedoch auch die Risiken.

Wer profitiert am Ende? Viele Fragen sind noch offen

Nehmen wir an, XMake führt dazu, dass mehr Menschen mit Behinderungen im industriellen Niedriglohnsektor Fuß fassen können. Wem wäre dann damit geholfen? Und was wollen wir: eine Anpassung des Menschen an den Arbeitsmarkt oder des Arbeitsmarktes an den Menschen? Als Gesellschaft sollten wir sichergehen, meint Philosoph Christian Uhle, „dass KI die Assistenz der Mitarbeitenden ist und dadurch ihre Autonomie und Selbstwirksamkeit stärkt – und nicht umgekehrt in einem schleichenden Prozess die Menschen in Arbeitsabläufen zu Assistenten der KI werden.“

Aber auch darüber hinaus gibt es zahlreiche offene Fragen und Herausforderungen, beispielsweise:

  • Datenschutzbedenken: Welche sensiblen Daten sammeln KI-Anbieter und Arbeitgeber:innen? Wie gehen sie damit um?
  • Abhängigkeit von Technologie: Welche Risiken entstehen, wenn die Technik ausfällt?
  • Kosten: Wie hoch sind sie jeweils und welche Hürden entstehen dadurch für Arbeitnehmer:innen und kleine Unternehmen?

Wie diese Fragen entschieden werden, ist ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess – und wir sind gerade mittendrin. Im Forschungsprojekt KI.ASSIST wurden 2021 Menschen mit Behinderung befragt, ob sie sich die Unterstützung durch KI am Arbeitsplatz vorstellen können. 91% der Befragten bejahten die Frage. Das Projekt untersuchte und erprobte verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten durch KI-Tools auf Chancen und Risiken. Das Fazit: KI kann einen wesentlichen Unterstützungsfaktor im Job darstellen. Aber die Tools müssen genau auf die Bedarfe ihrer Nutzer:innen abgestimmt werden – und das am besten schon im Rahmen ihrer partizipativen Entwicklung mit den Nutzer:innen der Technologien.