Einen Raum für queere Menschen mit Behinderung, chronischen Erkrankungen und Krisenerfahrung schaffen – darum geht es dem Inklusiven Queeren Zentrum in Berlin, unter anderem mit seinem Gruppenangebot Queer In. Die Schnittstelle von Queerness und Ableismuserfahrung wird gesellschaftlich wenig wahrgenommen und auch in queeren oder behinderten Communities oft ausgeklammert. Queer In bietet einen Ort für Austausch, Unterstützung und gemeinsame Strategien im Alltag – digital und vor Ort. Maria Milbert sprach mit Steph Streit und Ariane Bürkner vom IQZ Berlin.

Warum braucht es ein Inklusives Queeres Zentrum (kurz IQZ)? Das Team berichtet
Maria Milbert: Hallo Steph, hallo Ariane! Mögt ihr euch und eure Arbeit beim IQZ kurz vorstellen?
Ariane Bürkner: Ich arbeite seit April 2023 beim Inklusiven Queeren Zentrum, also seit es dieses Projekt gibt. Ich bin Psychologin und habe auch lange als Persönliche Assistentin in Dresden gearbeitet. Dort war ich auch in einem gemeinnützigen Verein tätig, der inklusive Kunst- und Kulturprojekte angeboten hat, zum Beispiel eine Theatergruppe.
Steph Streit: Ich bin einen Monat später als Ariane eingestiegen, also im Mai 2023. Für mich ist „Queerness und von Ableismus betroffene Menschen“ eine sehr spannende Schnittstelle. Was die Inhalte des Projektes betrifft, gibt es sehr viele Berührungspunkte zu mir persönlich. Ich sehe mich auch als krisenerfahren und queer und finde mich deswegen im Peer-to-Peer-Angebot wieder.
Von Ableismus betroffene Queers – wer ist damit gemeint?
Ableismus beschreibt die soziale Ausgrenzung und Verletzung aufgrund einer von außen zugeschriebenen „Andersheit”. Bestimmte Fähigkeiten werden als Norm gesehen, andere, von der Norm abweichende, als „anormal“ oder „unnormal“. Gleichzeitig besteht eine bestimmte Vorstellung davon, wie viel und was Menschen leisten können sollen. Wer das nicht kann, wird diskriminiert – das betrifft oft behinderte Menschen sowie Menschen mit chronischen und/oder psychischen Erkrankungen.
Mit „krisenerfahren“ sind Menschen gemeint, die psychische Krisen und/oder Psychiatrieerfahrungen gemacht haben. Diese können mit starken Belastungen wie Kontrollverlust oder innerem Druck verbunden sein und tiefe Gefühle von Angst, Hilflosigkeit, Wut oder Verwirrung auslösen. (Weiterlesen beim IQZ)
Aus der Beteiligung hervorgegangen: die Entstehungsgeschichte des IQZ
Ariane Bürkner: Das IQZ ist ein Nachfolgeprojekt von „Inklusive LSBTIQ+-Infrastruktur“. Dort wurde bereits – dank Förderung durch eine Berliner Senatsverwaltung (SenASGIVA) – geguckt, wie Barrieren in der queeren Community identifiziert und abgebaut werden können.
Maria Milbert: Wie genau lief dieser Prozess damals ab – war das eher eine klassische Recherche oder ein offener Austausch?
Ariane Bürkner: Es war ein Beteiligungsprozess. Unsere Vorgänger:innen – die damaligen Projektverantwortlichen – haben beispielsweise Träger aus der queeren Community und der Behinderten-Selbsthilfe sowie eine Architektin für Barrierefreiheit eingeladen.
Dieser Grundstein wurde also gelegt, bevor wir angefangen haben, hier zu arbeiten. Das heutige IQZ grundsätzlich ist größer und langfristiger angesetzt worden. Für uns kommt noch das persönliche Erleben der Menschen in der queeren Community dazu.
„Eine hochgradige Diskriminierung“ – Erfahrungen an der Schnittstelle von Queerness und Behinderung
Maria Milbert: Welche Herausforderungen für Menschen, die queer sind und Ableismuserfahrungen machen, begegnen euch in eurer Arbeit?
Steph Streit: Es gibt eine hochgradige Diskriminierung von Menschen mit Behinderung beziehungsweise ableismusbetroffenen Menschen, bei der sie nicht als sexuelle Wesen betrachtet werden. Dadurch ist sowohl ihre geschlechtliche als auch ihre sexuelle Identität kaum präsent. Das ist ein relevanter Faktor in Bezug auf Behinderung oder Ableismus und Queerness.
Allerdings ist es nicht so leicht zu sagen, dieses oder jenes ist eine typische Erfahrung an der Schnittstelle. Es ist sehr unterschiedlich, zum Beispiel was sichtbare und unsichtbare Behinderungen angeht. Wir versuchen, den Begriff „von Ableismus betroffene Menschen“ zu verwenden. Wobei man infragestellen kann, ob das so barrierefrei ist. Es ist ein englisches Wort und gerade für Menschen mit Lernschwierigkeiten kein leicht zugänglicher Begriff. Gleichzeitig ist es immer so ein Rattenschwanz, wenn man sagt, unser Angebot ist für krisenerfahrene, chronisch Kranke und andere Menschen mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen. Aber die Gruppe ist grundsätzlich sehr heterogen und macht daher ganz unterschiedliche Erfahrungen.
Ariane Bürkner: In einem Interview mit Paula Panke haben es unsere Vorgänger*innen Verena Eder und Ari Althaus so formuliert: „Man ist zu queer für die behinderte Community und zu behindert für die queere Community.“
Steph Streit: Viele Menschen sind erst einmal froh, dass es überhaupt diese Möglichkeit gibt, sich an dieser verbindenden Schnittstelle zwischen beiden Kategorien zu verbinden und auszutauschen, zum Beispiel in unserer Gruppe Queer In.

Das Peer-Angebot „Queer In“: ein Safer Space für von Ableismus betroffene Queers
Ariane Bürkner: Bei unserem Angebot Queer In müssen sich die teilnehmenden Menschen weder für die eine noch für die andere Seite erklären, rechtfertigen oder beschreiben, sondern können einfach ihren Erfahrungsschatz miteinander teilen und sich unterstützen.
Wie „Queer In“ abläuft: digital und vor Ort
Maria Milbert: Was erwartet die Teilnehmenden bei Queer In – wie gestaltet ihr den Austausch?
Steph Streit: Wir versuchen, das Queer In einmal im Monat für etwa zwei Stunden umzusetzen, meistens digital. Das ist auf eine Art barrierefreier und mit weniger Aufwand verbunden, weil es keinen Veranstaltungsort braucht oder Anfahrtswege, die selbst innerhalb Berlins mitunter lang sind. Das Angebot ist deutschlandweit offenbar einmalig, weswegen es auch deutschlandweit genutzt wird. Da wir offiziell ein Berlin-gefördertes Projekt sind, bieten wir es für Berliner:innen an. Aber wenn Menschen von außerhalb davon profitieren können, dann verschließen wir uns dem nicht, sondern sind gerne da. Dieser Raum wird als etwas sehr Wertvolles wahrgenommen.
Wir versuchen auch, ein Queer In in Präsenz stattfinden zu lassen, für dieses Jahr ist das zweimal geplant. Dann ist der Austausch direkter. Aber für einige ist es wiederum eine Barriere, wegen der Anfahrt oder weil man sich aus dem Miteinander der vielen Menschen nicht so leicht „ausklicken“ kann wie digital.
Themenvielfalt: von Urlaub bis Freundschaften
Maria Milbert: Welche Themen bringen die Teilnehmenden ein – gibt es Inhalte, die besonders oft zur Sprache kommen?
Steph Streit: Neulich ging es um das Thema Urlaub. Was bedeutet Urlaub? Das ist natürlich grundsätzlich ein Thema für von Ableismus betroffene Menschen. Vielleicht brauche ich Persönliche Assistenz, für die muss also auch eine Unterkunft gesucht und finanziert werden.
Dann: Wie komme ich da überhaupt hin? Wenn ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahre, braucht das oft eine besondere Logistik: Vielleicht habe ich einen Rollstuhl, oder für mich ist eine Bahnfahrt richtig anstrengend, oder ich bin unter Immunsuppression und kann sowieso nicht in Urlaub fahren, oder mein Budget gibt es nicht her.
Und dazu kommen Bedingungen, wie queere Menschen gerne Urlaub machen: Vielleicht haben sie Lust, mit ihrem Partner, ihrer Partner:in einfach mal händchenhaltend durch die Gegend zu laufen. Dann ist nicht jedes Land geeignet. Die Interaktionen queerer Menschen untereinander kann ungewohnt für Beobachtende sein und gegebenenfalls sogar unter Strafe stehen.
Bei all diesen Dingen, mit denen Queers oder Menschen, die von Ableismus betroffen sind, auch sonst konfrontiert sind, gibt es noch mal eine besondere Schnittstelle. Aber das ist eben immer sehr vielfältig.
Maria Milbert: Welche Rolle spielen enge Beziehungen – Freundschaften, Partnerschaften – in euren Gruppengesprächen?
Steph Streit: Das ist tatsächlich öfter mal Thema. Auch das Thema Einsamkeit ist öfter ein Thema, welches viele unserer Teilnehmenden beschäftigt und interessiert. Eine Frage, die die Teilnehmenden z.B. interessiert, ist die, wie eins Freundschaften aufrechterhalten kann. Das kann eine große Herausforderung für von Ableismus betroffene Menschen sein. Ein Beispiel: Vielleicht gibt es ein queeres Treffen, zu dem ich nicht regelmäßig gehen kann, weil ich plötzlich viel schneller müde bin als andere. Oder ich bin schneller reizüberflutet und habe weniger Kapazitäten, um neue Menschen kennenzulernen. Oder ich habe zwar tolle Freund:innen, aber diese haben vielleicht selber eine Beeinträchtigung wie schnelle Erschöpfung, Depressionen oder Panikattacken, und in bestimmten Phasen können wir uns nicht gegenseitig unterstützen. Obwohl wir vielleicht gerne draußen aktiv sind oder etwas unternehmen wollen, sehen wir uns dann letztendlich nur zweimal im Jahr.
Es wird wieder deutlich, dass beide Themen in unserer Gesellschaft sehr einschränkend sind. Wenn man für beides Einschränkungen erfährt, ist das noch mal eine besondere Herausforderung. Und viele Menschen haben nicht nur eine Erkrankung oder Beeinträchtigung, sondern multiple, zum Beispiel neben Multipler Sklerose noch Diabetes oder ADHS.
Empowernder Austausch zu Herausforderungen des Alltags
Maria Milbert: Welche Rolle spielen bürokratische Hürden im Alltag der Teilnehmenden – und wie geht ihr im Austausch damit um?
Steph Streit: Dann steige ich mit einem weiteren Beispiel ein: Vielleicht habe ich als Transmensch mit Behördengängen zu kämpfen, um meinen Geschlechtseintrag ändern zu lassen, und parallel ein Fatigue-Syndrom, wegen dem ich sehr schnell erschöpft bin. Was tue ich, wenn ich ewig auf einen Termin bei der Behörde warten muss und dann am entscheidenden Tag total durchhänge? Was, wenn das mehr als einmal passiert? Es ist wichtig, für solche Situationen einen Austausch zu ermöglichen, um zu fragen: Wie machen andere das in solchen oder ähnlichen Situationen? Habt ihr Tipps? Kann ich zum Beispiel jemand anderen stellvertretend zur Behörde gehen lassen oder gibt es auch eine Form digitaler Teilnahme?
Das ist eines unserer Ziele mit Queer In: Sich einerseits darüber auszutauschen, mit welchen Problemen wir konfrontiert sind, und andererseits zu schauen, was Lösungswege sind und wer schon welche Erfahrungen gemacht hat. Entsprechend dem Empowerment-Ansatz suchen wir danach, was die Person stärkt und wo sie sich noch ausprobieren kann, auch wenn sie in bestimmten Punkten eingeschränkt ist.

Externe Impulse und neue Themen in der Gruppe
Maria Milbert: Was möchtet ihr mit Queer In langfristig bewirken – und welche Formate entwickelt ihr dafür weiter?
Ariane Bürkner: Manchmal laden wir auch externe Referent:innen oder Expert:innen in die Gruppe ein, um etwas zwischen Input und Gesprächsführung anzubieten. Dann werden Themen oder Impulse aus der Gruppe aufgenommen, zum Beispiel Einsamkeit. Wir überlegen dann als IQZ, was wir mit unseren Ressourcen zusätzlich möglich machen können.
Steph Streit: Wir haben auch schon jemand Externen für einen Austausch zum Thema Psychiatrieerfahrung und Alternativen zur Psychiatrie eingeladen. Da gibt es verschiedene Aspekte zu bedenken, beispielsweise wenn ich Medikamente einnehmen muss und gleichzeitig in der Transition bin und dafür andere Medikamente brauche.
Das eine ist der medizinische Aspekt, das andere die Frage, wie das Personal in der Psychiatrie überhaupt mit Patient:innen umgeht. Was ist mit den besonderen Bedürfnissen von queeren Menschen? Da haben wir einerseits den sexuellen Aspekt, aber gleichzeitig auch die Geschlechtsidentität und was da alles noch dazugehört. Das Ziel ist immer, selbstbestimmt agieren zu können.
Weitere Angebote und Aktionen des IQZ
Maria Milbert: Neben Queer In – welche weiteren Angebote oder Formen der Unterstützung gibt es beim IQZ?
Ariane Bürkner: Ein Teil unseres Angebots ist relativ offene Verweisberatung und teils auch eigene Beratung. Je länger es das Projekt gibt, je mehr wir selber an Erfahrungen und Wissen sammeln, desto besser können wir entscheiden, wo wir selbst beratend tätig werden und wo wir an andere Stellen und Institutionen verweisen. Das ist völlig situationsabhängig. Es kommt darauf an, mit welchem Anliegen Menschen zu uns kommen. Dieser Bereich unserer Arbeit ist noch nicht sehr klar definiert. Wir sind aber auch keine Beratungsstelle.
Außerdem haben wir das Online-Angebot „Inklusive Achtsamkeit“. Das organisieren wir regelmäßig als IQZ. Umgesetzt wird es digital von Mechthild Kreuser.
Es ist uns wichtig, uns mit anderen Projekten weiter zu vernetzen. Dieses Jahr machen wir bei einer queeren Aktionswoche vom 30.06. bis 04.07. mit, bei der viele queere und bezirkliche Projekte ihre Arbeit bekannt machen. Wir werden dort unter anderem ein Präsenz-Queer In und eine Schnupperstunde für inklusive Achtsamkeit in Präsenz anbieten.
Mit Queer In schafft das IQZ einen wichtigen Raum für queere Menschen mit Ableismuserfahrung – einen Raum, in dem Austausch auf Augenhöhe möglich ist, in dem Unterschiedlichkeit willkommen ist und in dem gemeinsame Strategien für den Alltag entstehen können. Das Gespräch zeigt, wie viel Bedarf es für solche Angebote gibt – und wie viel Potenzial darin steckt, Community neu und inklusiver zu denken.
Im nächsten Beitrag werfen wir einen genaueren Blick auf die Barrieren, mit denen queere und ableismusbetroffene Menschen konfrontiert sind. Steph Streit und Ariane Bürkner sprechen darüber, wie sie diese Barrieren identifizieren, welche Lösungsansätze sie verfolgen und warum Ressourcenmangel oft ein entscheidender Faktor ist. Bleibt dran für Teil 2!