Anna Heidrich (M.A. Soziale Arbeit und Pädagogik) ist Antidiskriminierungsberaterin bei einer Beratungsstelle in Berlin. Mit Berl[in]klusiv sprach sie über Zugangsbarrieren in Kultur und Verwaltung und über starre Arbeitsstrukturen. Außerdem ging es darum, was Diskriminierungserfahrung für Folgen haben kann. Das Interview führte Maria Milbert.
Die „Antidiskriminierungsberatung Alter, Behinderung, chronische Erkrankung“ …
… ist eine Beratungsstelle in Berlin. Sie bietet kostenfreie Unterstützung für Menschen, die sich aufgrund ihres Lebensalters, ihrer Behinderung oder chronischen Erkrankung diskriminiert fühlen. Außerdem informiert sie durch Öffentlichkeitsarbeit über Diskriminierung, zum Beispiel mit Broschüren und Veranstaltungen. Ein Projekt der Landesvereinigung Selbsthilfe Berlin e.V.
Kontakt & mehr Infos: Website der Beratungsstelle
Maria Milbert: Hallo Anna, hat Dich in Deiner Arbeit als Antidiskriminierungsberaterin in letzter Zeit etwas überrascht?
Anna Heidrich: Ja, mich überrascht im Moment immer wieder, dass deutlich mehr Fälle haben als in den Jahren davor. Davon berichten auch andere Beratungsstellen.
Ich finde das einerseits positiv, weil es heißt, dass Menschen leichter den Zugang zu den Beratungsstellen finden und sich Hilfe holen. Gleichzeitig bedeutet es auch, dass viele Sachen passieren, die die Leute dazu bringen, überhaupt erst zu uns zu kommen. Ich vermute jedoch, dass es vorher mindestens genauso viele Fälle gab, die Menschen aber nicht gekommen sind.
Gesellschaftliche Krisen bringen mehr Herausforderungen im Alltag
Maria Milbert: Gibt es Vermutungen dazu, warum sich jetzt mehr Menschen melden?
Anna Heidrich: Seit zwei Jahren gibt es die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman. Sie ist auch medial präsent.
Und dann gibt es meiner Ansicht nach Dinge, die gesamtgesellschaftlich sozusagen brennen, zum Beispiel der anhaltende Konflikt in der Ukraine und das Post-Pandemie-Geschehen. Da kommt einiges zusammen, das eine Krisensituation für Menschen darstellt, in der sie mehr Herausforderungen im Alltag erleben. Es gibt eine generelle Angespanntheit. Gleichzeitig entsteht eine stärkere Auseinandersetzung mit Themen wie Ausgrenzung oder Diskriminierung.
Was der Arbeitswelt fehlt: Wissen und Flexibilität
Maria Milbert: Mit welchen Themen kommen Menschen häufiger zu Euch?
Anna Heidrich: Wir haben eine Spezialisierung auf die Merkmale Alter und Behinderung, aber nicht auf Lebensbereiche. Sehr häufig geht es zum Beispiel um Arbeit. Das reicht von Schwierigkeiten beim Einstellungsverfahren bis hin zu konkreter Diskriminierung am Arbeitsplatz.
Qualifiziert beworben – und trotzdem kein Gespräch?
Maria Milbert: Um was geht es dann zum Beispiel?
Anna Heidrich: Es gibt häufiger das Problem, dass sich Menschen mit Behinderungen auf eine Stelle bewerben und eigentlich auch die Qualifikationen erfüllen, soweit man das irgendwie nachvollziehen kann. Dann werden sie aber trotzdem nicht zu einem Gespräch eingeladen, obwohl gesetzlich geregelt ist: Wenn Menschen mit Behinderungen über die passende Qualifikation verfügen, müssen sie eingeladen werden. Zumindest für öffentliche Arbeitgeber ist das verpflichtend, private werden dazu angehalten.
Maria Milbert: Betrifft das nur die Qualifikation oder auch Berufserfahrung und Soft Skills?
Anna Heidrich: Das ist leider nicht ganz eindeutig geregelt, aber meiner Erfahrung nach wird vor allem auf die Abschlüsse geschaut. Berufserfahrung zählt auch. Es kann etwas ändern, wenn die Person schon fünf Jahre in einem vergleichbaren Bereich gearbeitet hat.
„Wir erleben, dass Arbeitgeber mit dem Thema Behinderung nicht vertraut sind“
Maria Milbert: Welche weiteren Probleme seht Ihr im Kontext von Arbeitsverhältnissen? Geht es auch um Kündigungen?
Anna Heidrich: Genau, wir haben ganz oft das Problem, dass wir nicht viel machen können, wenn die Kündigung in der Probezeit erfolgt. Dann stellt sich oft die Frage: Steht das im direkten Zusammenhang mit der Behinderung oder nicht?
Maria Milbert: Wie steht es mit Kündigungen bestehender Arbeitsverhältnisse?
Anna Heidrich: Ich hatte ein paar Fälle, wo es tatsächlich um eine schon langjährige Betriebszugehörigkeit ging und sich das Leistungsprofil einer Person aufgrund einer dann erworbenen Behinderung verändert hat, zum Beispiel nach einem Unfall oder durch eine Erkrankung. Dann veränderten sich zum Beispiel die Tätigkeiten, die die Person verrichten kann. Der Arbeitgeber hat in einem Fall darauf nicht angemessen reagiert. Am Ende wurde diese Person in einen anderen Bereich versetzt, der aber ihrer eigentlichen Qualifikation gar nicht entsprach.
Maria Milbert: Ist das eine Reaktion von Arbeitgebern, die Ihr häufiger erlebt?
Anna Heidrich: Das war ein drastischer Fall, der auch vor dem Arbeitsgericht gelandet ist. Aber etwas in der Form passiert häufiger. Wir erleben, dass Arbeitgeber mit dem Thema Behinderung nicht vertraut sind und ebenso wenig damit, was es mit sich bringt, dass sich Anforderungen verändern können. Sie wissen nicht, dass auch Arbeitgeber durchaus in der Pflicht sind, angemessene Vorkehrungen zu treffen, zum Beispiel Hilfsmittel zu besorgen oder einen Arbeitsplatz angemessen einzurichten. Oder sie kommen dem nicht nach.
Maria Milbert: Und setzen ihre Angestellten unter Druck.
Anna Heidrich: Die geraten unter Druck und gehen dann oft in eine ganz lange Krankheitsphase bzw. lassen sich lange krankschreiben. Wir raten den Leuten auch dazu, dass sie sich rausnehmen, wenn ein Arbeitsverhältnis sehr, sehr schwierig ist. Allerdings wird der Wiedereinstieg erschwert, wenn man lange ausfällt.
Gestaltung des Arbeitsplatzes: „wenig Bereitschaft, über Kompromisse nachzudenken“
Maria Milbert: Sind im Bereich Arbeit noch andere Themen besonders wichtig?
Anna Heidrich: In den letzten Jahren das Thema Homeoffice und Büro. Für viele Personen mit Behinderungen aus dem neurodiversen Spektrum ist das Arbeiten im Homeoffice sehr wichtig. Da hatte ich jetzt zwei Fälle, in denen es konkret darum ging, dass der Person am Anfang versprochen wurde, dass sie sehr viel zu Hause arbeiten kann. Deshalb hat sie die Arbeitsstelle auch angenommen. Am Ende kam aber heraus, dass das so überhaupt nicht erwünscht war, und dann gab es relativ viele Schwierigkeiten.
Maria Milbert: Dann sollte die Person doch plötzlich ins Büro?
Anna Heidrich: Sie sollte ins Büro kommen und zu bestimmten Zeiten arbeiten, die vorher nicht abgesprochen waren. Oder sie durfte ihren Hund nicht mitnehmen, obwohl er für sie die Funktion eines Assistenzhunds übernimmt. Auch das hatte sie vorher so vereinbart.
Da gab es gar keine Bereitschaft, überhaupt über Lösungen oder Kompromisse nachzudenken. Das finde ich immer schwierig.
„Das System ist einfach nicht so gemacht, dass es wirklich für alle Menschen, die es brauchen, handhabbar ist“
Maria Milbert: Was sind weitere zentrale Themen in der Beratungsstelle?
Anna Heidrich: Generell haben wir das große Thema der Zugänge. Da geht es um Infrastruktur, also Verkehr und Gebäude wie Behörden, aber auch um digitale Anwendungen. Das betrifft wiederum oft den Kulturbereich, also Ticketvergabe und Ähnliches. Hinzu kommt der Bereich der angemessenen Vorkehrungen: Wie ist es bei Kulturveranstaltungen zum Beispiel mit Rollstuhlplätzen? Sind die ausreichend vorhanden? Wenn ja, in welchem Bereich? Wir hatten jetzt schon häufiger Fälle, wo Richtlinien nur pro forma umgesetzt wurden. Die tatsächliche Situation vor Ort war dann wirklich sehr, sehr schwierig, weil beispielsweise der Rollstuhlbereich viel zu klein war, sodass gerade mal zwei Rollstühle ohne Begleitperson Platz hatten. Das sind Dinge, die eigentlich nicht stimmig sind.
Wenn man nicht ins Theater kommt – oder im Brandfall nicht wieder raus
Maria Milbert: Das heißt, Veranstalter:innen entsprechen teils den gesetzlichen Rahmenbedingungen oder ihren Verpflichtungen. Trotzdem ist es oft für die Nutzer:innen nicht angemessen.
Anna Heidrich: Ja, manchmal entsprechen sie den Bedingungen aber auch nicht. Neulich ging es um ein Theater, bei dem der Zugang überhaupt nicht barrierefrei war. An zwei Treppen musste eine Rampe händisch angelegt werden, man brauchte also eine Viertelstunde, um überhaupt ins Theater zu kommen. Ein E-Rollstuhl wäre da vermutlich überhaupt nicht hochgekommen, weil die Steigung zu stark war. Und dann stellte sich heraus, dass die Brandschutzvorschriften eigentlich für Rollstuhlfahrer:innen gar nicht richtig umsetzbar waren, weil die Brandschutztür auf der anderen Seite und somit nicht erreichbar war.
Ein Thema, das wir in diesem Kontext häufiger erleben, ist der Konflikt zwischen Denkmalschutz und Barrierefreiheit. So war es in diesem Haus zum Beispiel auch.
Wenn man staatliche Leistungen braucht – aber die Behörde nicht betreten kann
Maria Milbert: Gibt es solche Diskriminierungsrisiken auch in Zusammenhang mit der Verwaltung?
Anna Heidrich: Generell ist auch hier der ganze Bereich der Zugänge sehr problematisch. Zugangsbarrieren führen dazu, dass Menschen weniger selbstständig eine Leistung beantragen oder überhaupt darum wissen, was sie alles beantragen können. Ich finde, das System ist einfach nicht so gemacht, dass das wirklich für alle Menschen, die es brauchen, handhabbar ist.
Intersektionen: wenn es um mehr als ein Merkmal geht
Maria Milbert: Lass uns über die Menschen sprechen, die zu euch kommen. Du hast gesagt, Ihr prüft erst einmal, ob die Merkmale zutreffen oder ob vielleicht eine andere Beratungsstelle weiterhelfen kann. Ist das immer eindeutig oder gibt es Personen und Anliegen, bei denen sich das so intersektional überschneidet, dass es vielleicht gar nicht so einfach zuzuordnen ist?
Anna Heidrich: Klar, wir haben viele solcher Fälle und wir beraten auch bei intersektionaler Zugehörigkeit.
Intersektionalität
„Intersektionalität kommt von ‚Intersection‘. Das bedeutet im Amerikanischen ‚Straßenkreuzung‘. Diskriminierungen haben häufig unterschiedliche Gründe und Quellen und überlagern sich gegenseitig. Anders gesagt, in der Lebenswirklichkeit vieler Menschen ‚kreuzen‘ oder verknoten sich soziale Kategorien wie Gender, Rasse oder Klasse.“ (Quelle: Heinrich Böll Stiftung)
Herausgefordert durch Behinderung und Fluchtgeschichte
Maria Milbert: Wie zeigt sich diese Zugehörigkeit zum Beispiel?
Anna Heidrich: Es gibt beispielsweise Menschen, die eine Behinderung haben, aber auch nach Deutschland geflohen sind. Leider kommt es häufiger vor, dass sie hier gerade im medizinischen Bereich relativ große Schwierigkeiten haben. Dann kommt es teilweise zu Fehldiagnosen oder einer schlechten bis gewaltsamen Behandlung im Krankenhaus.
Maria Milbert: Kommt es zu Fehldiagnosen, weil niemand übersetzt?
Anna Heidrich: Manchmal gibt es keine angemessene Übersetzung, oder es fehlt generelle Unterstützung, auch beim Beantragen bestimmter Leistungen.
Maria Milbert: Hinzu kommen mögliche Rassismuserfahrungen.
Anna Heidrich: Rassismuserfahrungen und generelle Vorurteile. Das wäre also eine Intersektion, die nicht so selten ist. Da würden wir zum Beispiel auch beraten, tun uns aber mit anderen Beratungsstellen zusammen, die mehr Expertise zu Rassismus mitbringen.
Nach dem Unfall erst mal … zum Chef? Diskriminierung von Frauen mit Behinderung
Maria Milbert: Welche Relevanz hat Gender in eurer Beratung?
Anna Heidrich: Relativ große Relevanz. Zum einen ist es so, dass die Intersektion weibliches Geschlecht oder weibliche Sozialisation und Behinderung sehr häufig ist. Zum anderen wenden sich Frauen insgesamt häufiger an uns.
Maria Milbert: Gibt es eine Idee, woran das liegt?
Anna Heidrich: Ich glaube, dass Frauen mit Behinderungen insgesamt und eigentlich in allen Lebensbereichen mehr Diskriminierung erfahren.
Maria Milbert: Gibt es eine bestimmte Thematik in diesem Kontext von Frausein und Behinderung, um die es häufiger geht?
Anna Heidrich: Eigentlich nicht. Wir arbeiten zum Beispiel auch zusammen mit der Mut-Stelle der Lebenshilfe. Die machen Beratung zu sexualisierter Gewalt. Das ist ein Bereich, der ab und zu bei uns ankommt. Aber da es oft ein Straftatbestand ist, sind wir nicht eindeutig zuständig. Wir beraten dann schon, aber ich würde diese Fälle auch immer weiterverweisen. Das ist jedenfalls ein Bereich, von dem ich weiß, dass wir bisher dazu ausschließlich Frauen beraten haben.
Maria Milbert: Worum geht es Frauen mit Behinderung in der Beratung noch?
Anna Heidrich: Es betrifft häufig den Bereich Arbeit. In den letzten Fällen ging es darum, wie ist es, nach einer Krankheit wiederzukommen oder wiederkommen zu wollen. Wie kann ich dann meine Tätigkeit wieder aufnehmen? Das waren ausschließlich Frauen, die dann oft in Konstellationen arbeiten, wo sie einen männlichen Chef haben. Gerade in mittelständischen Unternehmen ist es immer diese klassische Aufteilung. Ich glaube, das bringt zusätzlich eine bestimmte Dynamik.
Lebensgeschichten, die von Benachteiligung geprägt sind
Maria Milbert: Die Beratungsstelle informiert mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit über Diskriminierung. Worüber gibt es in der Öffentlichkeit zu wenig Wissen?
Anna Heidrich: Zum Beispiel darüber, dass Zugänge fehlen zur Kultur, wie ich das beschrieben habe. Wegen bestimmter Barrieren kann es sein, dass Menschen Kulturangebote gar nicht mehr nutzen. Das kann zur Folge haben, dass sie viel weniger aktiv sind und seltener rausgehen. Dann werden sie vielleicht einsam und das ist eine Form von Isolation, die mit Ängsten verbunden ist. Davor, rauszugehen, dieses oder jenes nicht zu schaffen. Das sind keine Dinge, die von heute auf morgen passieren. Aber sie geschehen im Laufe des Lebens.
Menschen, die Diskriminierung erleben, erfahren sie in der Regel nicht nur einmal. Es sind oft Lebensgeschichten, die sehr davon geprägt sind, dass Personen aufgrund bestimmter Schwierigkeiten immer wieder in Situationen kommen, in denen sie benachteiligt werden.
Maria Milbert: Welche weiteren Folgen können Diskriminierungserfahrungen haben?
Anna Heidrich: Sowohl psychische als auch körperliche. Diskriminierung kann bedeuten, dass Menschen ökonomisch abgeschnitten werden, weil es schwierig ist, die Arbeit aufrechtzuerhalten. Das sind sehr drastische Lebenssituationen, bei denen wir immer versuchen, gemeinsam nach Lösungen und neuen Perspektiven zu suchen.
Wie verläuft eine Beratung in der Antidiskriminierungsstelle? Wer kann sie in Anspruch nehmen? Welche Unterstützung gibt es noch? Und was muss sich in Berlin noch verändern? Bleibt dran, auch um diese Fragen ging es im Interview. Dazu mehr in einem kommenden Beitrag – im Juni auf Berl[in]klusiv.
Links zur Antidiskriminierungsberatung
Bilder: Antidiskriminierungsberatung Alter, Behinderung, Chronische Erkrankung (ADB)