Im öffentlichen Raum sollen Wege und Übergänge für alle nutzbar sein – unabhängig von einer Behinderung oder chronischen Erkrankung. Aber wer benötigt was für die eigene Mobilität, und welche Barrieren gibt es? Darüber haben Vertreter:innen verschiedener Interessensgruppen bei den Inklusionstagen 2024 diskutiert. Ein Überblick.

Was Mobilität verhindert: Unfälle und Ängste im Straßenverkehr

Was sind besondere Risiken für Unfälle im öffentlichen Straßenverkehr? Damit setzt sich Jörg Ortlepp auseinander. Er leitet den Fachbereich Verkehrsinfrastruktur bei der Unfallforschung der Versicherer in Deutschland.

Viele Unfälle, berichtet er, geschehen schlicht an Bordsteinkanten bzw. beim Überqueren von Straßen. Das liegt oft an schlechten Sichtbedingungen, also daran, die Straße nicht gut sehen zu können.

Außerdem besteht beim Überqueren von Straßen ein erhöhtes Risiko für Menschen mit geistigen Behinderungen sowie für blinde Menschen und Fußgänger:innen mit eingeschränktem Sehvermögen. Für diese Gruppen kann es eine größere Herausforderung bedeuten, den Verkehr einzuschätzen, zum Beispiel Entfernungen zu oder zwischen Fahrzeugen.

Die Straße ist für viele zu schnell

Als Problem sieht Ortlepp in diesem Zusammenhang vor allem die hoch angesetzten Geschwindigkeitsbegrenzungen in den Städten. Dadurch bleibt Fußgänger:innen und Menschen mit Hilfsmitteln oft zu wenig Zeit, um auf herannahende Fahrzeuge zu reagieren. Verbesserungsmöglichkeiten liegen auf der Hand: Die zulässige Geschwindigkeit in den Innenstädten muss an vielen Orten reduziert und Hindernisse, die eine freie Sicht auf die Straße versperren, müssen entfernt werden.

Hinzu kommen Lücken in der Statistik: Ob Menschen mit Hilfsmitteln wie Rollstühlen und Rollatoren häufiger Unfälle erleben, wird nicht gesondert erfasst. Daher lässt sich nicht genau beziffern, wie hoch das Risiko für diese Gruppen wirklich ist.

Risiken für ältere Menschen

Ältere Menschen machen über die Hälfte der anerkannten Schwerbehinderten aus. Damit sind sie auch insgesamt höheren Risiken im Straßenverkehr ausgesetzt. Das berichtet Michaela Engelmeier, Vorstandsvorsitzende beim Sozialverband Deutschland:

Die Hälfte der Menschen über 65, die im Verkehr verunfallen, verunglücken tödlich.
Michaela Engelmeier

Sozialverband Deutschland

Neben hoch angesetzter Geschwindigkeitsbegrenzungen kritisiert Engelmeier auch die fehlenden Orte zum Verschnaufen: Bänke am Bürgersteig sind für ältere Menschen wichtig, um ihre Wege mit Pausen besser bewältigen zu können. Es gibt jedoch vielerorts zu wenige davon.

Aus Angst vor Unfällen gehen viele dann gar nicht mehr raus. Gerade in großen und geschäftigen Städten wie Berlin ist das ein Problem, berichtet die Sprecherin.

Inklusionsbarometer Mobilität

In eine ähnliche Richtung weisen die aktuellen Ergebnisse des Inklusionsbarometers Mobilität, die ebenfalls auf den Inklusionstagen vorgestellt wurden. Die Studie der Aktion Mensch untersuchte die Frage: „Wie inklusiv ist Mobilität in Deutschland?“.

Ein zentrales Ergebnis der Befragung besteht darin, dass 34% der Menschen mit Behinderung es sich manchmal nicht zutrauen, selbstständig und alleine unterwegs zu sein. Diese Zahl steht 19% der Befragten ohne Behinderung entgegen.

Zudem fühlen sich fast doppelt so viele Menschen mit (29%) wie ohne Behinderung  (16%) in manchen Situationen unsicher und alleingelassen.

Die Studie kommt zu dem Schluss:

Mobilität wird nach wie vor zu sehr vom (städtischen) Mainstream-Menschen aus gedacht. Viele Gruppen der Gesellschaft werden bei der Planung von Mobilität nicht oder zu wenig berücksichtigt und erleben Mobilität vor allem geprägt durch Barrieren verschiedenster Art.
Inklusionsbarometer Mobilität

Studie der Aktion Mensch

Um dieses Problem anzugehen, müssen die verschiedenen Gruppen von Nutzer:innen mit ihren jeweiligen Bedürfnissen und Herausforderungen stärker bedacht werden. Vor allem müssen sie bei der Stadt- und Verkehrsplanung mitreden können. Dafür braucht es in den Städten und Kommunen mehr Transparenz bei den Planungsprozessen und gezielte Beteiligungsverfahren, schließen die Autor:innen der Studie.

Die deutsche Verkehrskultur bevorzugt Autos – schon seit dem Nationalsozialismus

Roland Stimpel gehört zu FUSS e.V., dem Fachverband Fußverkehr Deutschland. Zu Fuß bzw. ohne ein Fahrzeug unterwegs zu sein, ist ihm zufolge weiterhin die meistgenutzte Form der Mobilität in Deutschland. Gleichzeitig sind ihre Nutzer:innen am direktesten den Gefahren des Straßenverkehrs ausgesetzt. Wie kann das sein?

Wie er berichtet, liegen die Ursprünge dieser „Verkehrsunkultur“ zum Teil im Nationalsozialismus: Schon in den 1930er-Jahren haben die Nazis die Straße vor allem für den „Kraftverkehr“ ausgebaut – „Krüppeln“ sollte dabei „keine Nachsicht“ gelten, zitiert Stimpel aus einem Dokument der 1930er-Jahre.

Viele Menschen sind im Straßenverkehr gefährdet, weil sie sich seinen Bedingungen nicht anpassen können. Das sollen sie aber auch nicht müssen – vielmehr muss der Verkehr den Menschen angepasst werden, argumentiert Stimpel für FUSS e.V.

E-Roller: die Freiheit mancher liegt vielen im Weg

An diesen Anblick hat man sich in deutschen Großstädten fast schon gewöhnt: Mehr oder weniger handliche, mehr oder weniger klobige E-Roller liegen quer über Geh- und Radwegen. Die Leihroller als relativ neue Form der Mobilität werden so zu einer besonders unberechenbare Barriere.

Eine Gefahrenquelle bilden sie für viele, wenn nicht alle Verkehrsteilnehmenden. Besonders sind blinde Menschen betroffen, wie Christiane Möller vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband berichtet. Allzu oft werden die Roller entweder quer über den Wegen abgelegt oder fallen schlicht um und blockieren so die Strecke. Dadurch sind für viele blinde Menschen nicht einmal bekannte Gehwege mehr ohne die Erwartung wesentlicher Hürden zu bewältigen. Das trägt dazu bei, dass manche sich nicht mehr trauen, allein das Haus verlassen.

Möller zufolge gehören die Roller klar auf spezielle Stellflächen und nicht auf die Gehwege – dazu fehlt aber bislang eine gesetzliche Regelung. Ebenso ist die Haftung unklar: Wer einen Scooter genau an welchem Ort und in welcher Position abgelegt hat, kann im Streitfall nicht bewiesen werden. Deswegen haften bislang weder die verleihenden Formen noch Nutzer:innen für Unfälle, die sie verursachen.

Hörend und fühlend durch die Stadt: Unterstützung für blinde und sehbehinderte Menschen

Eine Reihe von Systemen hilft blinden und sehbehinderten Menschen dabei, sich unterwegs zurechtzufinden. Dazu gehören Möller zufolge die kontrastreiche Gestaltung des Bodens auf Fußwegen, sodass zum Beispiel Stufen besonders gut sichtbar sind. Diese können zusätzlich taktil gekennzeichnet werden, sich also durch einen spürbar anderen Bodenbelag von der Umgebung abheben.

Zu den Unterstützungssystemen im öffentlichen Raum zählen außerdem taktil und akustisch nutzbare Ampeln – Ampeln an Übergängen, deren Anzeige auch mittels eines kleinen Lautsprechers hörbar oder an einer Box fühlbar ist. Dabei gibt es in Berlin durchaus noch Ausbaupotenzial, erklärt Möller.

Besonders wichtig sind zudem Bodenleitsysteme, zum Beispiel in Form von Rillen auf dem Gehweg,  die unterwegs mit den Füßen erspürt werden können. Sie leiten blinde Fußgänger:innen durch die Stadt. Leider werden sie von sehenden Stadtbewohner:innen häufig kaum oder nicht wahrgenommen und so zugestellt, zum Beispiel mit der Außenbestuhlung von Restaurants. Der Verband fordert daher eine stärkere Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Leitsysteme.

Kompromisse in der Stadtplanung sind beispielsweise an der Bordsteinkante gefragt. Diese muss für Nutzer:innen von Rollatoren und Rollstühlen abgesenkt werden. Sie darf jedoch nicht eben oder so nah an der Straße sein, dass sie von blinden Menschen nicht mehr beim Gehen erspürt werden kann.

Zunehmend spielt auch Elektromobilität für die Hörbarkeit des Straßenverkehr eine Rolle, denn Elektroautos sind leiser als Fahrzeuge mit Verbrennermotoren. Das künstlich hinzugefügte Geräusch (AVAS bzw. Acoustic Vehicle Alerting System) darf dabei nicht zu unauffällig ausfallen, damit herannahende PKWs auch von allen wahrgenommen werden, die sie nicht sehen.

Shared Spaces – wie gut verstehen sich Gehweg und Radweg?

Kommen verschiedene Formen von Mobilität auf einer Fläche zusammen, kann es auch mal krachen. Und zwar ganz wörtlich: Die hohe Geschwindigkeit von Elektrorädern beispielsweise kann für andere auf gemeinsamen Geh- und Radwegen ein Risiko darstellen. Mit solchen „Shared Spaces“ ist daher vorsichtig umzugehen, fordern mehrere Teilnehmende in der Diskussion mit dem Publikum der Veranstaltung.

Dabei stellt sich auch die Frage, wie breit der Bereich solcher geteilten Räume sein muss. Es braucht beispielsweise ausreichend Raum, damit auch gehörlose Menschen sich unterwegs unterhalten können, statt konstant den Blick auf den Straßenverkehr zu richten und auf Fahrräder zu achten.

Maßnahmen: Wie erreichen wir barrierefreie Mobilität im öffentlichen Raum?

Klar geworden ist: Unterschiedliche Gruppen bewegen sich mit jeweils eigenen Bedürfnissen durch die Stadt. Während diese Notwendigkeiten sich teilweise überschneiden, gibt es gelegentlich auch Unterschiede, die Kompromisse nötig machen. Hier fassen wir die Forderungen der Interessensgruppen und Verbände zusammen. Also: Was ist nötig auf dem Weg in die barrierefreie Stadt?

Wir brauchen mehr Zeit:

  • Stärkere Geschwindigkeitsbegrenzungen in den Innenstädten
  • Längere Ampelschaltungen für weniger Zeitdruck beim Überqueren der Straße
  • Bänke zum Ausruhen unterwegs

Wir brauchen mehr Raum:

  • Barrierefreie, also auch fahrradfreie Bereiche
  • Klare Regelungen für das Ablegen von E-Rollern und die Haftung bei Unfällen

Wir brauchen mehr Wissen und gezielte technische Entwicklung:

  • Bessere Statistiken, um Unfälle und Risiken zu erfassen
  • Digitale Hilfsmittel, die standardisiert sind und langfristig funktionieren
  • Gut hörbare Elektrofahrzeuge

Wir brauchen einen Ausbau der Hilfssysteme in den Städten:

  • Hörbare und fühlbare Ampeln
  • Bodenleitsysteme
  • Abgesenkte Bordsteinkanten

Wir brauchen eine inklusivere Stadt- und Verkehrsplanung:

  • Expert:innen einbinden
  • Betroffene einbinden und gezielt befragen
  • Öffentliche Sensibilisierung, zum Beispiel in Fahrschulen und im ÖPNV
  • Normen einführen und umsetzen, das heißt, Barrierefreiheit
    • in DIN-Normen verankern
    • in Bauordnungen festhalten
    • zur Bedingung für öffentliche Förderung machen

Die Liste der Maßnahmen, die bei der Podiumsdiskussion genannt wurden, ist lang – und noch lange nicht vollständig. Hinzu kommen beispielsweise Rampen, Aufzüge und sichtbare Warnsysteme bei vorbeifahrenden Rettungsfahrzeugen. Und für alle braucht es entsprechende Ressourcen. Die sollten es aber wert sein, den Weg in eine andere Verkehrskultur vorzubereiten – in einen öffentlichen Raum, in dem sich alle bewegen können.

Bilder: Shutterstock