Werkstätten für Menschen mit Behinderungen sind in Deutschland nach wie vor weit verbreitet – trotz wachsender Kritik und des international geforderten Wandels hin zur Inklusion. Rund 300.000 Menschen arbeiten in einem System, das häufig Isolation und geringe Bezahlung bedeutet und kaum Zugänge zum regulären Arbeitsmarkt bietet. Wirtschaftliche Interessen und politische Unsicherheiten bremsen bislang tiefgreifende Veränderungen. Dieser Artikel beleuchtet, wie das Werkstattsystem entstanden ist, warum es weiterhin besteht und wer davon profitiert.

Aktuelle Zahlen und Entwicklungen

Werkstätten für Menschen mit Behinderungen – kurz Werkstätten oder „WfbMs“ – wirken von außen wie eine überschaubare Sonderwelt. Solange man das System nicht kennt.

Aktuelle Statistiken zeigen: Es gibt ca. 3.000 Werkstattstandorte in Deutschland, an denen insgesamt etwa 300.000 Menschen mit Behinderung arbeiten. Also fast so viele Menschen, wie in Bonn wohnen, Deutschlands früherer Hauptstadt. Diese Zahl ist seit den 1970er-Jahren von 15.000 kontinuierlich gestiegen (Sackarendt & Scheibner 2021, S.109) und pendelt sich seit 2019 ungefähr auf dem aktuellen Stand ein.

Wer sind die Werkstattbeschäftigten? Wandel im Beschäftigtenprofil

Was sich verändert hat: Waren Werkstätten bei ihrer Einführung in den 1950er-Jahren vor allem als „geschützter Raum“ für Menschen mit einer körperlichen Behinderung vorgesehen, so haben heute 75% der Werkstattbeschäftigten eine sogenannte intellektuelle Behinderung oder Lernschwierigkeiten. Nur 4% sind körperbehindert und bei etwa 22% wurde eine psychische Behinderung diagnostiziert.

Das System der Werkstätten, in dem Menschen unter Mindestlohn und fast ohne Kontakt zur regulären Arbeitswelt tätig sind, stellt weitgehend einen deutschen Sonderweg dar. Zwar gab es solche Beschäftigungsformen nach dem Zweiten Weltkrieg in mehreren europäischen Ländern, inzwischen haben sich die Systeme aber meist weiterentwickelt – beispielsweise zu den inklusiven Betrieben Spaniens und der Niederlande (Wolfmayr 2021).

Die UN fordert Reformen

Durch die Ratifizierung der UN-BRK – des Abkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen – ist Deutschland seit 2009 zu Inklusion auch auf dem Arbeitsmarkt verpflichtet. Dieser Verpflichtung entspricht die Regierung bislang nicht und wurde daher bereits 2015 durch den UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen gerügt. In dem Bericht heißt es ausdrücklich:

Der Ausschuss ist besorgt über:

(a) die Segregation auf dem Arbeitsmarkt;

(b) finanzielle Hindernisse für Menschen mit Behinderungen, die ihnen den Zugang zum offenen Arbeitsmarkt oder den Übergang dorthin erschweren;

(c) die Tatsache, dass segregierte, geschützte Werkstätten die Arbeitnehmer:innen nicht auf den Übergang zum offenen Arbeitsmarkt vorbereiten oder diesen fördern.

UN-Komitee für die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigungen
Concluding observations on the initial report of Germany (übersetzt)

Des Weiteren empfiehlt die UN im selben Bericht, geschützte Werkstätten abzuschaffen, und zwar „durch sofort umsetzbare Ausstiegsstrategien und Zeitpläne sowie Anreize für die Beschäftigung im öffentlichen und privaten Sektor auf dem regulären Arbeitsmarkt“. Bis heute hat die Bundesregierung kaum Schritte in diese Richtung unternommen. Wie konnte es so weit kommen?

Werkstätten für Menschen mit Behinderungen – eine bereits zu lange Geschichte

Die Geschichte der Werkstätten in Deutschland ist eng mit gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen verknüpft. Sie war stets auch staatlich gesteuert und mit den Interessen der sozialen Träger verbunden.

„Vermittlunsgspielchen“ zwischen Arbeitsmarkt, Werkstatt und Politik
Illustration aus einem Artikel in der „Luftpumpe“ (einer Zeitschrift der Behindertenbewegung)  von 1980

Die Anfänge der Werkstätten: von den ersten Einrichtungen bis zur Nachkriegszeit

Bereits im 19. Jahrhundert gab es in Deutschland handwerkliche Werkstätten für Menschen mit körperlichen und intellektuellen Behinderungen. Diese waren Teil eines weitgehend geschlossenen Anstaltsnetzes, zu dem sogenannte Krüppelfürsorge-Häuser und psychiatrische Anstalten gehörten. Nach den Weltkriegen kamen gesonderte Werkstätten hinzu. Sie waren vor allem für kriegsversehrte Menschen gedacht.

Mit dem Schwerbeschädigtengesetz von 1953 erweiterte sich der Personenkreis um blinde und infolge von Unfällen behinderte Menschen. Personen mit intellektuellen Behinderungen blieben zunächst weitgehend ausgeschlossen und wurden weiterhin meist in Anstalten versorgt.

Die Etablierung des Werkstattsystems und die Rolle der Lebenshilfe

Ab den 1960er-Jahren entstand in Deutschland mit dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) eine neue, vom allgemeinen Arbeitsmarkt getrennte Arbeitswelt für Menschen mit Behinderungen: die sogenannten „Werkstätten für Behinderte“. Die Begründung dafür war vor allem die Annahme, dass viele Menschen mit Behinderungen nicht wettbewerbsfähig genug seien, um auf dem regulären Arbeitsmarkt mitzuhalten. Das frühere Ziel, alle Menschen mit Behinderung möglichst vollständig in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren, wurde für viele daher als unrealistisch aufgegeben. So wurden die Werkstätten zu Sammelstellen für Menschen mit verschiedenen Formen von Behinderung. Beschäftigte in diesen Werkstätten hatten – und haben bis heute – zwar ein eigenes Rechtsverhältnis, aber keinen vollen Arbeitnehmer:innenstatus wie in regulären Betrieben.

Von Anfang an war die Lebenshilfe maßgeblich an der Konzeption und Einführung des Werkstattsystems beteiligt – als eine der ersten Träger:innen, die Werkstätten einführten. Inzwischen hat sie nach eigener Information 737 Werkstätten aufgebaut und zählt damit weiterhin zu den einflussreichsten Anbieter:innen in diesem Bereich.

Auch in den folgenden Jahrzehnten blieb die Haltung der Bundesregierung zu Menschen mit Behinderung im Arbeitsleben zwiespältig. So äußerte sie 1979 in einem offiziellen Dokument die Befürchtung, man solle bei intellektuell behinderten Menschen das Prinzip der Normalisierung nicht überstrapazieren. Statt auf eine vollständige gesellschaftliche und berufliche Integration zu setzen, ging es vor allem darum, die Bedingungen in den Werkstätten zu verbessern – also die Arbeitsabläufe und die Umgebung humaner zu gestalten. Ein möglichst „normales“ Arbeitsleben inmitten der Gesellschaft war zu dieser Zeit jedoch keineswegs das Ziel.

1980 wurde die Werkstättenverordnung eingeführt, die das System weiter etablierte – aber auch standardisierte. Sie schrieb beispielsweise fest, wer zu welchen Bedingungen in Werkstätten beschäftigt werden konnte, dass ein Betrieb in der Regel mindestens 120 Plätze haben soll und dass auch individuelle Förderung zum Auftrag der Werkstatt gehört (Sackarendt & Scheibner 2021).

Neue Forderungen und Alternativen: Kritik und Entwicklungen seit den 2000er-Jahren

Kritik und Reformversuche gibt es in Deutschland vor allem ab den 2000er-Jahren: Mit Bezug auf die UN-Behindertenrechtskonvention und die Menschenrechte wird zunehmend eine Änderung des Systems gefordert. Inzwischen stehen auch Alternativen wie das Budget für Ausbildung und das Budget für Arbeit zur Verfügung, die Lohnkostenzuschüsse und Assistenz am Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz bieten.

Hinzukommen die sogenannten Inklusionsbetriebe. 1.019 solcher Unternehmen waren 2023 in Deutschland gelistet. Sie sind zwar immer noch besondere Einrichtungen und kommen damit dem im Namen angegebenen Inklusionsversprechen nur bedingt nach. Allerdings weisen hier in der Regel 30 bis 50% der Beschäftigten eine Behinderung auf – statt alle wie in den Werkstätten. Zudem werden sie tariflich bzw. ortsüblich bezahlt und das Unternehmen erwirtschaftet einen Großteil seines Gewinns am Markt, ist also der freien Wirtschaft deutlich näher (Wolfmayr 2021, S.218).

Trotz dieser positiven Impulse besteht das System der Werkstätten in Deutschland fort und bildet sogar einen wachsenden Wirtschaftszweig. Es werden auch noch neue Werkstätten gebaut, zum Beispiel ab Juli dieses Jahres in Heidenheim durch die Lebenshilfe. Denn: Werkstätten sind für den Staat profitabel.

Systemfehler Werkstatt – Kritik im Überblick

„Niemand kann in einer Werkstatt wegen fehlender Leistung gekündigt werden. Und das ist das Wichtige“, erklärt Martin Berg, Vorstandsvorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für Menschen mit Behinderung (BAG WfbM), in einem Interview. Es klingt, als sei die Werkstatt ein von der Wirtschaft abgetrennter Raum, in dem andere Gesetze gelten. Dem ist jedoch nicht so.

„12 Schrauben in die Tüte“
Bericht eines Werkstattbeschäftigten aus dem „Ghettoknacker“ (Zeitschrift der Behindertenbewegung) von 1981

Werkstätten machen Profit – aber für wen?

Eine Studie aus dem Jahr 2014 zeigt: Werkstätten erzeugen mit 100 Euro investierten Mitteln eine Wertschöpfung von 108 Euro. Das Werkstattsystem verhilft dem Staat damit hochgerechnet zu Einsparungen von 6 Milliarden bei Investitionen von 5,6 Milliarden Euro – ein Gewinn von immerhin 400 Millionen. Das Portal Pflegemarkt.com bezeichnet das als „deutliches Plus für die Gesellschaft.“ Nur: Für welchen Teil der Gesellschaft?

Von der Werkstattarbeit profitieren neben dem Staat vor allem Unternehmen. Jedes Jahr zahlen deutsche Firmen umfangreiche Ausgleichsabgaben – im Jahr 2020 waren es fast 700 Millionen Euro –, da sie nicht genug Arbeitnehmende mit Behinderung beschäftigen. Zu dieser Zahlung an die Integrationsämter sind sie staatlich verpflichtet. Es sei denn, sie geben Arbeitsaufträge an Werkstätten ab. Oder an Gefängnisse.

Warum sind die Produkte, die im Werkstattsystem hergestellt werden, nicht transparent gekennzeichnet?

Wir haben #Ökosiegel
kämpfen gegen #Kinderarbeit,
sind für Transparenz im #Lieferkettensystem

Aber wenn es um behinderte Menschen geht, sind wir unkritisch
Leider!

Katrin Langensiepen
Abgeordnete der Grünen im Europäischen Parlament

Diese Aufträge – meist Verpacken, Montage, Etikettieren, Sortieren – sind bei den Werkstätten umkämpft. Wie eine Recherche der SZ und des Magazins andererseits zeigt, wird mit großen Firmen oft noch „um die dritte oder vierte Nachkommastelle in den Verhandlungen“ gerungen. Werkstattarbeit muss billig sein, denn die Betriebe sind laut Werkstättenverordnung dazu verpflichtet, wirtschaftlich zu arbeiten. Und das tun sie: Wie eine Entgeldstudie zeigt, erwirtschafteten Werkstätten 2019 im Schnitt ca. 5 Millionen Euro – einzelne aber sogar über 86 Millionen. Ermöglicht wird das durch die niedrigen Löhne der Beschäftigten.

Löhne weit unter Mindestlohn: Warum Bezahlung in Werkstätten problematisch bleibt

Wie viel erhält man für eine Vollzeittätigkeit in der Werkstatt? 2019 lag das durchschnittliche Einkommen bei 179 Euro, ergab eine Befragung der Werkstattleitungen im Rahmen der Entgeltstudie. Minimal wurden 80 und höchstens 447 Euro pro Monat gezahlt.

Diese Beträge von ein bis drei Euro pro Stunde liegen weit unter dem gesetzlichen Mindestlohn. Möglich ist das, weil Beschäftigte in Werkstätten noch immer keinen regulären Arbeitnehmer:innenstatus haben: Sie unterzeichnen keinen Arbeits-, sondern einen Werkstattvertrag. Das ist nicht nur ethisch bedenklich, sondern auch verfassungsrechtlich problematisch.

Daher setzt sich sogar die Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten selbst in ihrem aktuellen Jahresbericht für „ein mindestens existenzsicherndes Einkommen für alle Werkstattbeschäftigten“ ein. Das Entgeltsystem der Werkstätten bleibt seit Langem stabil, weil die Beschäftigten in der Regel weitere Leistungen wie Erwerbsminderungsrente oder Grundsicherung beziehen (müssen). Da auch diese Leistungen oft nur ein Leben oberhalb der Armutsgrenze ermöglichen, bedeutet die Werkstattarbeit für manche Beschäftigte schlicht, „nicht zur Tafel gehen zu müssen oder zur Kleiderkammer“. Was das Einkommen jedoch nicht ist: ein Ausweg aus dem oft segregierenden System der Fürsorge.

Segregation und fehlende Perspektiven

Die UN-Kommission für die Rechte von Menschen mit Behinderungen kritisiert seit Jahren, dass Werkstätten ein segregierendes System darstellen. Beschäftigte mit Behinderungen werden hier von solchen ohne Behinderung getrennt. Viele haben nur wenig Kontakt mit nicht behinderten Menschen – abgesehen von den tariflich bezahlten Fach- und Hilfskräften, die von der Werkstatt angestellt werden, um sie zu anzuleiten und zu unterstützen.

Zum gesetzlichen Auftrag der Werkstätten gehört es, „den Übergang geeigneter Personen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt durch geeignete Maßnahmen“ zu fördern. Die Zahlen bleiben jedoch erschreckend. So zeigt die Entgeltstudie: Lediglich 0,35 Prozent der Werkstattbeschäftigten nehmen eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt auf. Es ist nicht nachvollziehbar, warum mit ausreichender Förderung und Arbeitsassistenz nicht deutlich mehr Menschen dazu befähigt werden können.

Weiterhin gibt es unter den Werkstätten zahlreiche Großeinrichtungen mit über 800 Beschäftigten und kaum eine Perspektive, das System zu verlassen. So fasst Inklusionsaktivist Raúl Krauthausen zusammen:

Ein realistischer und häufig stattfindender Lebensweg eines Menschen in Sondereinrichtungen: Ein behindertes Kind kommt in ein Internat, das sich auf dem Gelände der Förderschule befindet, die es besucht. Nach Abschluss der Schule zieht der behinderte Mensch in das angegliederte Wohnheim, macht im ebenfalls zur Einrichtung gehörenden Berufsbildungswerk eine Ausbildung, um dann in der Werkstatt auf demselben Gelände bis zur Rente zu arbeiten. Um schließlich im benachbarten Altenheim für behinderte Menschen den Rest seines Lebens zu verbringen.

Raúl Krauthausen
Inklusionsaktivist

„Nicht alle Werkstätten sind schlecht“

Diesen Einwand hört man häufig, wenn Kritik am System der Werkstätten für Menschen mit Behinderung geäußert wird. Hier werden durch die Beschäftigten Aufträge gewissenhaft und sorgfältig erfüllt und außerdem häufig fachkundig und empathisch pädagogische Arbeit geleistet. Zudem fühlen sich nicht wenige Werkstattbeschäftigte im „geschützten Rahmen“ der Einrichtungen wohl und bevorzugen ihn sogar, wie eine Interviewstudie (Schreiner 2017) gezeigt hat.

Fakt bleibt jedoch, dass das System der Werkstätten an sich seinem Auftrag und einem Großteil der Beschäftigten nicht gerecht wird. Und schlicht unrecht ist – unter anderem im Sinne der UN-BRK.

Die Seite der Politik: Reformbemühungen und Rückschritte

In den letzten Jahren hat die Bundesregierung, vor allem das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), einen Reformprozess für Werkstätten für behinderte Menschen in Gang gesetzt. Sie will damit die Arbeitsbedingungen, das Entgeltsystem und den Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt verbessern. Auf Basis der zitierten Entgeltstudie wurde 2024 ein Aktionsplan entwickelt, der mehr individuelle Bildung, bessere Bezahlung und inklusivere Arbeitsplätze vorsieht. Bestehende Förderinstrumente wie das Budget für Arbeit bleiben dabei ein wichtiger Baustein.

Aber: Die Veränderungen verlaufen in sehr kleinen Schritten. Werkstätten sollen dabei nicht – wie die UN vorsieht – abgeschafft, sondern zu offeneren, inklusiveren Einrichtungen umgebaut werden. Es geht darum, die Rechte und Chancen der Beschäftigten zu stärken, mehr Übergänge zum ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen und die Löhne zu erhöhen – innerhalb des bestehenden Systems.

Bis 2025 sollen wichtige Gesetzesänderungen zu Entgelt, Finanzierung und Mitbestimmung beschlossen werden. Ob diese Reformen tatsächlich zu echter Inklusion und Wahlfreiheit zwischen Werkstatt und regulärem Arbeitsmarkt führen, bleibt abzuwarten. Nach dem Regierungsbruch der Ampelkoalition stockt der Prozess bedenklich.

Im neuen Koalitionsvertrag ist zwar eine Orientierung an Inklusion festgeschrieben. Gleichzeitig will die neue Regierung jedoch die Werkstätten durch die Ausgleichsabgabe der Unternehmen weiter stärken. „Das ist nicht nur ein Paradox, sondern auch ein Verstoß gegen die UN-BRK“, argumentiert Katrin Langensiepen, Abgeordnete der Grünen.

„Löst die Werkstätten für Behinderte auf!“
Titel eines Schwerpunktartikels in der „randschau“ (Zeitschrift der Behindertenbewegung) von 1988

Fazit: Ein radikaler Wandel ist längst nötig

Auch die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e. V. (ISL) sieht die derzeitigen Entwicklungen kritisch. Für sie haben das Fortbestehen und das Wachsen des Werkstattsystems mit dem Erstarken rechter Positionen im Bundestag zu tun:

Erneut ist zu beobachten, wie Forderungen der extremen Rechten ins sogenannte „bürgerliche“ Lager einsickern. Den „Meilenstein auf dem Weg hin zu einer inklusiven Gesellschaft“ droht die aktuelle Regierung rückabzuwickeln: Teilhabe soll wieder abhängig gemacht werden von Wirtschaftlichkeit, Zumutbarkeit und fachlicher Einschätzung von nicht Betroffenen – statt von den Wünschen und Bedarfen der Menschen mit Behinderungen.

Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben e.V.
Positionspoapier

Warum gibt es in Deutschland noch Werkstätten für Menschen mit Behinderungen? Weil sie wirtschaftlich profitabel und politisch gewollt sind. Dass das so ist, bekam kürzlich auch die Rechercheplattform FragdenStaat zu spüren. Sie fragte bei den Integrationsämtern und der Agentur für Arbeit Daten zu Inklusion in Unternehmen an: Wie viel Ausgleichsabgabe wird gezahlt, wie viele Aufträge an Werkstätten abgegeben, wie viele Arbeitskräfte mit Behinderung eingestellt? Die Behörden aber gaben diese Daten nicht frei, stellten FragdenStaat Tausende Euro Gebühren in Rechnung und sprachen sich zu ihren Ablehnungsstrategien sogar miteinander ab. Aufgrund dieser aktiven Behinderung der Recherche steht der Fall aktuell vor Gericht.

Forderungen Betroffener und Vorgaben der UN sind eindeutig: Das Werkstattsystem in seiner aktuellen Form kann nicht fortbestehen. Es ist segregierend und verletzt die Menschenrechte der Beschäftigten.

Was geschehen soll, hat das UN-Komitee bereits 2015 festgehalten:

  • Barrierefreie Arbeitsmöglichkeiten schaffen, insbesondere für Frauen mit Behinderungen
  • Geschützte Werkstätten schrittweise abschaffen
  • Sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen keine Einschränkungen hinsichtlich des Sozialschutzes und der Rentenversicherung erfahren, die derzeit an geschützte Werkstätten geknüpft sind

Assistenz- und Arbeitgebermodelle, kann man heute hinzufügen, müssen gestärkt werden. Sie sind die Grundlage für Wahlfreiheit und Selbstbestimmung. Außerdem wird angesichts rechter Positionen immer klarer: In unserer heutigen Demokratie muss Inklusion verteidigt werden.

Links und Literatur

Bildausschnitte aus Zeitschriften: Archiv Behindertenbewegung
Beitragsbild: Shutterstock