Die BVG will ein Mobiliätsunternehmen für alle sein. Für alle, die sich täglich, ab und zu oder mal im Urlaub mit Bus, Tram und U-Bahn durch Berlin bewegen, ob mit oder ohne Hilfsmittel. Doch die Realität sieht oft anders aus. Von vorbeifahrenden Bussen über defekte Aufzüge bis hin zu blockierten Rollstuhlplätzen – der Mobilitätsalltag ist für Menschen mit Behinderung oft von Hindernissen und Diskriminierung geprägt.
Wenn der Bus einfach vorbeifährt
Es schon öfter vorgekommen, dass wir als Familie einfach nicht mitgenommen worden sind. Weil es halt oft heißt, immer nur ein Rollstuhlfahrender. Und das sehen wir nicht ein.
Das berichtet Alexander Ahrens, Pressesprecher der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben e.V. Ahrens lebt in Berlin, nutzt selbst einen Rollstuhl und setzt sich für Selbstbestimmung ein – beruflich wie auch im eigenen Leben.
Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL) ist eine Selbstvertretungsorganisation von Menschen mit Behinderungen. Der Verein wird von behinderten Menschen organisiert, geleitet und verwaltet. Sein Kernziel ist die menschenrechtskonforme Umsetzung von Selbstbestimmung, Empowerment, Inklusion, Partizipation, Chancengleichheit und Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen.
In Ahrens‘ Familie benötigen neben ihm auch seine Frau und ab und zu sein Sohn einen Rollstuhl. Gemeinsam in Berlin Bus zu fahren, ist für die drei immer wieder eine Herausforderung. Das beginnt damit, dass Busse manchmal gar nicht erst anhalten, wenn die Familie zusammen an der Haltestelle steht.
„Das ist darin gegipfelt, dass uns zwei Busse hintereinander nicht mitnehmen wollten“, erzählt Ahrens. „Der Erste wollte nur einen mitnehmen. Dann haben wir gesagt, nehmen wir halt den Nächsten. Der nächste Busfahrer ist gar nicht erst ausgestiegen und meinte gleich, er darf nur einen mitnehmen. Zwei nimmt er nicht mit.“ Das passierte an einem Sonntagnachmittag. Der zweite Bus hatte eine leere Stellfläche.
Was Ahrens‘ Familie hier erlebte, ist keine Seltenheit. Das berichtet auch Felix Haßelmann von der Ombudsstelle Berlin:
Es ist eine häufige Konstellation, dass Rollstuhlfahrende uns berichten, dass ihnen die Mitfahrt verweigert wird. Wenn beispielsweise der Bus anfährt: Andere Personen steigen ein und dann erfolgt der Hinweis, der Bus ist zu voll, wir haben hier keinen Platz mehr für Rollstuhlfahrende. Oder wenn der Bus erst gar nicht die Haltestelle ansteuert, an der eine rollstuhlfahrende Person wartet.
Die LADG-Ombudsstelle in Berlin berät und unterstützt kostenfrei Menschen, die nach dem Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz ihre Rechte durchsetzen möchten. Ihr Fokus ist Diskriminierung, die von Berliner Behörden oder anderen Berliner öffentlichen Einrichtungen ausgeht. Die Ombudsstelle arbeitet unabhängig und vertraulich.
Nur ein Rollstuhlplatz pro Bus? Folgen eines Missverständnisses
Schon mal gesehen? Innen im Bus, über der Frontscheibe, prangt ein Schild, auf dem die Anzahl der Steh- und Sitzplätze eingetragen ist. Und oft auch der Hinweis – manchmal mit Edding hinzugefügt – „1 Rollstuhl“. Diese Angabe geht auf eine EU-Richtlinie zurück, in der festgelegt wurde, dass mindestens ein Rollstuhlplatz vorhanden sein muss.
Aus diesem gut gemeinten Mindeststandard scheint sich das Missverständnis entwickelt zu haben, es dürfe nur eine Person im Rollstuhl mitgenommen werden. Eine Idee, die sich unter Fahrer:innen hartnäckig hält – und schnell mal einen gemeinsam mit Familie, Freund:innen oder Kolleg:innen geplanten Weg verhindert. So ist es aber nicht, wie Ahrens auf seine Beschwerde hin auch schriftlich von der BVG erfahren hat. Fahrer:innen entscheiden selbst, wie viele Menschen mit Rollstuhl, Rollator oder Kinderwagen sie mitnehmen. Hier ein Auszug aus der E-Mail:
Wir schulen unsere Busfahrer*innen so, dass sie nach Möglichkeit mehrere Personen mit Rollstuhl mitnehmen und den Wünschen der Fahrgäste entgegenkommen. Das sehen auch Dienstvorschriften so vor. […]
Gleichzeitig sind die Busfahrer*innen persönlich für die Sicherheit der Fahrgäste im Fahrzeug verantwortlich. Auch wenn das im Zweifel sehr unbefriedigend für Sie als Fahrgast ist, ist die Einschätzung des Fahrpersonals zu respektieren. Es kann dabei durchaus vorkommen, dass Fahrer*innen bestimmt vorgehen – Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Behinderung werden dabei nicht gemacht.
Für Ahrens stellt aber bereits diese Entscheidungsfreiheit der Fahrer:innen Willkür dar, denn er kann – wie auch andere Fahrgäst:innen – selbst am besten einschätzen, ob eine Busfahrt für ihn sicher ist oder nicht:
Die Alltagskompetenz darf mir nicht abgesprochen werden. Wenn ich sage, ich passe da noch hin, dann passe ich halt da noch hin.
Wer fährt den Bus – und unter welchen Bedingungen?
Gleichsam hat Ahrens Verständnis dafür, dass Fahrer:innen unter ganz unterschiedlichen und oft schwierigen Bedingungen arbeiten. Hier kommt Personal aus verschiedenen Kategorien zusammen: Ältere BVGler:innen mit beamtenähnlichen, guten Arbeitsbedingungen, neuere Angestellte der BVG mit anderen Verträgen, aber auch Leiharbeiter:innen und beispielsweise Menschen im Ruhestand, die nun wieder Wochenenddienste fahren.
Angesichts des Arbeitskräftemangels ist es auch für die BVG nicht einfach, genug Personal zu finden. Gegenüber Ahrens beschreibt das Unternehmen in der E-Mail „umfangreiche Rekrutierungsmaßnahmen, denn gerade fehlende Busfahrer*innen stellen eine große Herausforderung dar“. Auch Berl[in]klusiv hat nachgefragt. Die BVG war zu keinem persönlichen Gespräch bereit, beantwortete jedoch schriftlich einige Fragen. Demzufolge sind Diversity-Schulungen für alle Mitarbeitenden verpflichtend, auch im Fahrdienst. Dabei könnte auch die Beförderung von Fahrgäst:innen mit Rollstuhl thematisiert werden.
Was im Einzelnen in den Fortbildungen geschieht und wer sie in welcher Regelmäßigkeit erhält, ist von außen schwer einzuschätzen. Ahrens bezweifelt, ob die Schulung aller Fahrer:innen gelingt oder überhaupt möglich ist:
Das wird, glaube ich, immer falsch beigebracht. Gerade die neueren Busfahrer:innen sagen nein, weil sie wahrscheinlich auch Angst haben, dass sie was falsch machen im Job. Sie müssen in der Zeit bleiben. Vielleicht denken sie auch, sie werden getestet.
Wenn Rollstuhlplätze nicht besetzt, aber auch nicht frei sind
Haßelmann berichtet aus der Erfahrung der Ombudsstelle von einem weiteren häufigen Grund der Beschwerde:
Es gibt noch die Konstellation, dass der Platz, der eigentlich für Rollstuhlfahrende vorgesehen ist, von anderen Fahrgästen nicht freigehalten wird. Dann wird oft an uns herangetragen, dass die Busfahrer:innen nichts unternehmen, um diesen Platz freizugeben.
„Vorne einsteigen!“ – seit der Pandemie nicht mehr
Dass Fahrgäst:innen ohne Hilfsmittel auf den Rollstuhlplätzen stehen, passiert in Bussen seit der Pandemie deutlich öfter, berichtet Ahrens. Davor mussten neue Fahrgäste vorne einsteigen, um dort ihr Ticket zu zeigen. So konnten Fahrer:innen zunächst die Tür geschlossen lassen und in Ruhe die Rampe ausklappen, um Menschen mit Rollstühlen, Rollatoren und Kinderwagen zuerst einstiegen zu lassen.
Seit einigen Jahren ist das jedoch nicht mehr so: Um das Fahrpersonal zu entlasten, darf überall eingestiegen werden, ohne das Ticket vorzuzeigen.
Das heißt, wenn ich da stehe, bin vielleicht der Erste an der Bushaltestelle, warte aber 15 Minuten, bis der Bus kommt. In der Zeit sind halt schon 15 andere da. Dann kommt ein voller Bus, die steigen halt einfach ein. Der Bus ist voll, selbst wenn gar kein Rollstuhlfahrer drin ist. Und dann heißt es vom Fahrer, ich sehe jetzt nicht genug Platz.
In der Regel müssen Fahrgäste im Rollstuhl warten, bis die Rampe ausgeklappt wird. Erst dann können sie einsteigen.
Foto: Alexander Ahrens
Die Krux mit den Rampen
In Berlin müssen grundsätzlich Fahrer:innen die Rampe der Busse ausklappen. Fahrgäst:innen sind dazu nicht berechtigt, auch wenn es oft anders gehandhabt wird.
Manche Busse senken sich auch selbstständig ab. Ob der Einstieg für Menschen im Rollstuhl dann aber selbst möglich ist, hängt aber auch davon ab, wie hoch der Bordstein davor ist. Ist der nicht mindestens 20 cm hoch – was in Berlin noch nicht überall der Fall ist – kann der Einstieg immer noch zu steil sein.
Angesichts der unterschiedlich barrierefreien oder -vollen Bushaltestellen sind die Klapprampen ein einfaches, praktisches Hilfsmittel. Die Situation kann für diejenigen, die die Rampen nutzen, aber dennoch schwierig sein. Marlen, die ebenfalls mit Rollstuhl BVG fährt, erzählt in einem Social Media Beitrag: „Wenn die Rampe rausgeklappt wird, drehen wirklich viele mit den Augen“. Auch vom Fahrpersonal wünscht sich Marlen sensibleres Verhalten: „Einfach mal freundlich sein und nicht abgenervt, wenn sie die Rampe runtermachen müssen. Ich meine, ich hab’s mir nicht ausgesucht.“
Der Beitrag von Marlen ist Teil der Kampagne #BVGtransparent machen vom Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin (ADNB). Das Netzwerk setzt sich damit dafür ein, dass die BVG Ihr Beschwerdemanagement transparent macht und verbessert. Weitere Beiträge auf Instagram.
Der „Klassiker der Barrieren“: unbenutzbare und kaputte Aufzüge
Zeitweilig unbenutzbare Aufzüge sind sicher das bekannteste Thema im Kontext Barrierefreiheit und ÖPNV in Berlin. Wer ab und zu mit Rollstuhl, Kinderwagen, Fahrrad oder Gepäck darauf angewiesen ist, kennt das Gefühl, vor verschlossener Glastür zu stehen – oder das Innere verschmutzt vorzufinden.
Mittelfristige Barrieren durch Baumaßnahmen
Auch zu diesem Thema melden sich regelmäßig Menschen bei der Ombudsstelle.
Der Blick in unsere Beschwerdezahlen und Fälle zeigt, dass es entweder um Fragen von Umbauten an bestehenden Haltestellen geht, die nicht mehr nutzbar sind, weil zum Beispiel der Aufzug nicht mehr zur Verfügung steht oder dass die Haltestelle an sich geschlossen ist, sodass Menschen darauf angewiesen sind, eine andere zu nutzen.
Oft sind es also Sanierungsmaßnahmen, die dazu führen, dass Aufzüge für längere Zeit ausfallen. Diese Maßnahmen sind oft dringend notwendig und können auch dazu dienen, Haltestellen barrierefrei(er) zu machen. Dafür sind oft umfassende Umbauten nötig.
Aber wie wird denn dafür Sorge getragen, dass Menschen, zum Beispiel Rollstuhlfahrende, trotzdem von A nach B kommen? Diese Belange müssen berücksichtigt werden. Und das ist jedenfalls im Moment mit Blick auf unsere Beschwerdezahlen nicht immer der Fall.
Um für dieses Von-A-nach-B-Kommen Sorge zu tragen, hat die BVG den Muva eingeführt.
Der „Muva“: ein Kleinbus als mobiler Aufzugersatz
„Es ist schon Wahnsinn, was dann wiederum für einen Aufwand betrieben wird, um die fehlende Barrierefreiheit zu kaschieren“, meint Ahrens mit Blick auf den Muva. Dabei handelt es sich um kurzfristig verfügbare, rollstuhlgerechte Kleinbusse, die man telefonisch oder über eine App bestellen kann. Ist der Aufzug am Start oder Ziel defekt, soll der Muva Abhilfe schaffen.
Ahrens hat den Dienst vor Kurzem zum ersten Mal benutzt, als er unterwegs mit einem kaputten Aufzug konfrontiert war. Er berichtet positiv von seinen Erfahrungen:
Auf der Seite https://www.brokenlifts.org/ kann man herausfinden, welche Aufzüge im Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg funktionieren und welche momentan außer Betrieb sind. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Beitrags sind laut BrokenLifts 34 Aufzüge nicht nutzbar.
Nach fünf Minuten kam ein Muva-Bus, der aber auch immer einen Bordstein braucht, weil er eine Rampe zum Rausklappen hat. Dann kann ich aber von der Seite reinfahren. Ich muss nicht wie in einem klassischen Behindertentransporter reingeschoben werden, sondern es ist ein richtiger kleiner Bus, wo auch noch Platz ist für sechs oder sieben Fahrgäste, die kein Hilfsmittel haben. Der fährt mich dann zu der Haltestelle, wo der Aufzug kaputt ist. Dann hat er mich sogar an einer völlig anderen Bushaltestelle rausgelassen, die gar nicht auf dem Plan war. Das hat gut funktioniert.
Funktionierend, aber unbenutzbar: stark verschmutzte Aufzüge
Aber nicht nur technische Probleme machen Aufzüge unbenutzbar. Neben Defekten führen leider auch Fäkalien dazu, dass Aufzüge und somit Haltestellen nicht betreten oder verlassen werden können.
Ich sage es so, wie es ist. Seit mehreren Monaten haben wir ein Problem mit vollgeschissenen Aufzügen. Dass die nach Urin alle riechen, ist klar. Aber nun hat das eine neue Dimension angenommen. Nicht nur bei der BVG, auch bei den S-Bahn-Aufzügen. Das ist eine sehr ekelerregende Erfahrung. Das hat es wirklich richtig überhandgenommen, dass wir so viele Menschen haben, die nicht wissen, wohin – und dann die Aufzüge benutzen.
Im öffentlichen Raum Berlins hat man oft den Eindruck, dass Obdachlosigkeit zunimmt. Auch die Parteifraktionen Berlins teilten diese Einschätzungen jüngst in ihren Statements zur Situation in Charlottenburg. Aktuelle Zahlen liegen nicht vor. Die Problematik ist vielschichtig. Sie hat auch mit dem Krieg in der Ukraine zu tun und mit den nicht immer ausreichenden Hilfsangeboten für obdachlose Menschen in Berlin.
Wichtig ist: Wird die BVG über solche Zustände benachrichtigt, muss ihr Wartungsunternehmen den Aufzug innerhalb von zwei Stunden begutachten. Bei der S-Bahn kann man Verschmutzungen auch per WhatsApp melden.
Ausblick: Wohin reist die BVG?
Eins ist klar geworden: Wer barrierefreien ÖPNV braucht, hat es oft nicht leicht in Berlin. Berichte von Betroffenen und die Erfahrungen der Ombudsstellen zeigen, dass noch viel zu tun ist. In den nächsten Artikeln auf diesem Blog geht es genau darum: Was ist zu tun? Und was kann man selbst tun, wenn man von Diskriminierung und Barrieren im ÖPNV in Berlin betroffen ist?
Als die zwei Busse Alexander Ahrens und, seine Frau und seinen Sohn nicht mitnehmen wollten, hat die Familie es schließlich doch noch ins zweite Fahrzeug geschafft. Das musste anhalten, um andere Fahrgäst:innen aussteigen zu lassen. Mitgenommen wurde die Familie mit den beiden Rollstühlen jedoch nur, weil sie wortwörtlich den Fuß in die Tür stellte – und so die Weiterfahrt des Busses blockierte. Auch danach waren noch eine Diskussion und ein klärender Kontakt des Fahrers zur BVG-Zentrale nötig. Und nun läuft ein Klageverfahren.
Alexander Ahrens fährt weiterhin Bus.
Foto: Alexander Ahrens
Bilder (wenn nicht anders angegeben): Shutterstock