Plötzlich können alle günstig Bahn fahren – und verstopfen das Rollstuhlabteil. Was fürs Klima gut ist, ist nicht immer für alle gut – zum Beispiel, wenn schnelle Klimapolitik an Menschen mit Behinderungen vorbeigeplant wird. Das muss nicht so sein. Der Beitrag zeigt anhand von Studien und Beispielen die Inklusionslücken des Klimaschutzes auf und nennt Ansätze dafür, ihn inklusiver zu denken.

Klimamaßnahmen: selten inklusiv

197 Staaten haben 2015 das Pariser Klimaabkommen unterzeichnet. Den Vertrag also, von dem wir seither regelmäßig in den Medien hören – weil die Staatengemeinschaft sich damals auf das 1,5-Grad-Ziel einigte.

In dem detaillierten Abkommen wurde aber nicht nur das Ziel festgelegt, die Erderwärmung auf ein Maß zu begrenzen, das für das Leben auf den Planeten noch handhabbar erscheint. Die Staaten legten sich auch darauf fest, jeweils eigene Klimapolitiken mit konkreten Regelungen zu entwickeln – und darin explizit die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu berücksichtigen. Sie setzten sich also gemeinsam zum Ziel, in ihrer Klimapolitik inklusive Lösungen zu entwickeln.

Studie zeigt: kaum Inklusion in Climate Policies

Umgesetzt hat das jedoch nur eine Minderheit. Das zeigt die Ende 2022 veröffentlichte Studie „Disability Rights in National Climate Policies: Status Report“ (DICARP 2022). Dafür wurden die nationalen Klimapolitiken und -regelungen dahin gehend ausgewertet, ob und wie sie Menschen mit Behinderung thematisieren.

Wie sich zeigt, findet nur bei einer Minderheit der Staaten (19% bzw. 37 Länder) Behinderung überhaupt Erwähnung. Von diesen Ländern einschließlich Deutschland wird meist auf vergleichsweise höhere Risiken für Menschen mit Behinderung durch den Klimawandel verwiesen. So sah es auch in den deutschen Dokumenten zur Klimapolitik aus. Konkrete Maßnahmen, die Klimaschutz und Inklusion verbinden, planten hingegen nur 14 Staaten. Lediglich Costa Rica legte sich beispielsweise darauf fest, ein barrierefreies System des öffentlichen Nahverkehrs zu etablieren.

Mobilität in Deutschland: immer klimafreundlicher – aber mit mehr Barrieren?

Wer Klimapolitik sagt, denkt meist auch Mobilitätswende. Der ÖPNV soll ausgebaut, soll günstiger werden. Das ist eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, dass weniger Menschen auf Autos angewiesen sind. Leider ist der Personennahverkehr in Deutschland in weiten Teilen nicht barrierefrei – und manchmal wird die Situation durch Klimapolitik auch zusätzlich angespannter.

Deutschlandticket: an Inklusion vorbeigeplant

Ein Beispiel dafür bildet das 9- bzw. jetzt 49-Euro-Ticket. Durch den günstigen Preis wurde erreicht, dass schlagartig mehr Menschen den öffentlichen Nahverkehr nutzen konnten – und die Züge füllten sich.

Entsprechende Probleme wurden bereits mit der Einführung des 9-Euro-Tickets durch Behindertenverbände erkannt und kritisiert: Tickets waren nicht barrierefrei kaufbar, sondern nur am Schalter oder auf meist nicht barrierefreien Webseiten; Rollstuhlabteile wurden und werden nicht freigehalten. Vor allem aber wurden die Kapazitäten des Nahverkehrs insgesamt nicht erhöht, obwohl plötzlich viel mehr Menschen Bus und Bahn nutzten.

Wenn jetzt die Züge überfüllt sind, haben wir das Problem, dass Menschen mit Behinderung nicht reinkommen und eigentlich nur noch das Prinzip „Survival of the Fittest“ gilt. Das kann es nicht sein.

Alexander Ahrens

ISL Deutschland

So beschreibt Alexander Ahrens, Sprecher der Initiative Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL), der selbst im Rollstuhl sitzt, die Situation. Wenn durch zu volle Züge Menschen im Rollstuhl plötzlich den Zug gar nicht mehr betreten können, ist auch das Diskriminierung.

Elektroautos: wenn man mit dem Rollstuhl nicht zur Ladesäule kommt

Ladesäulen für Elektrofahrzeuge: Immer mehr gibt es davon im öffentlichen Raum, immer besser sind sie zugänglich. Aber für wen?

Häufig sind die Ladestationen auf erhöhten Flächen platziert, sodass erst einmal eine oder mehrere Stufen überwunden werden müssen. Oder man kommt erst gar nicht bis zur Schwelle der Elektromobilität, da zwischen Parkfläche und Ladesäule zu wenig Platz ist, um sich mit einem Rollstuhl zu bewegen. Und da ist da noch die Höhe der Steckdosen an der Säule: Nicht immer sind sie so niedrig angebracht,  dass man die Kabel auch aus einer Sitzposition mit der nötigen Kraft einstecken könnte.

Sind barrierefreie Ladesäulen so schwierig zu bauen? Nein – entsprechende Pläne und Konzepte gibt es bereits. Sie müssen jedoch auch entsprechend umgesetzt und flächendeckend in Normen und Vorgaben verankert werden.

Strohhalme und Plastikverpackungen: für viele sind sie Hilfsmittel

Auch andere Interventionen gegen die Klimakrise können Menschen mit Behinderungen mit neuen Hürden konfrontieren. Dazu zählt beispielsweise das Verbot von Plastikstrohhalmen, das seit 2021 in der EU gilt. Die Strohhalme sind eine Gefahr für Meerestiere, die daran ersticken können. Außerdem stellen sie für die meisten Menschen, deren Drink im Restaurant ein Plastikröhrchen zierte, einen unnötigen Luxus dar.

Viele Menschen mit motorischen Einschränkungen sind jedoch zum Trinken auf Strohhalme angewiesen – vor allem in Restaurants. Strohhalme aus anderen Materialien sind häufig nicht gleich hygienisch oder gleich stabil.

Ähnliche Dilemmata gibt es bei geschnittenem und einzeln verpacktem Obst und Gemüse im Supermarkt und bei Lieferdiensten mit ihren aufwendigen Verpackungen. All dies schadet der Umwelt und sieht auf den ersten Blick nach Überfluss aus – erleichtert vielen Menschen jedoch wesentlich den Alltag.

Raúl Krauthausen fasst es so zusammen:

Natürlich müssen wir gegen Plastikmüll vorgehen. Und ich bin mir sicher, dass es bald eine technische und umweltschonende Lösung für Trink- und Esshilfen geben wird. Aber so lange sollte nicht vergessen werden, dass die Nahrungsaufnahme ein Menschenrecht ist, dessen behinderte Menschen immer mehr beraubt werden; wenn sie den Kaffee nicht ohne Halm bestellen oder zu Hause den Teller nicht abwaschen können und auf Einweggeschirr zurückgreifen müssen. Echter Umweltschutz nimmt viele Perspektiven ein, nicht nur die von Menschen, die ohne Behinderung leben. Schließlich soll Umweltschutz kein Wohlfühlevent für Privilegierte sein, nicht wahr?

Raúl Krauthausen
Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit

Menschen mit Behinderung sind stärker durch den Klimawandel bedroht

Diese Aussage klingt zunächst verallgemeinernd und trifft auch nicht auf jede Einzelperson zu. Risiken durch die Klimakrise sind von vielen Faktoren und Privilegien abhängig, nicht nur vom Körper und von individuellen Fähigkeiten.

Allerdings überschneiden sich beim „Merkmal“ Behinderung oft mehrere dieser Faktoren. So hat Behinderung zum Beispiel mit Armut und medizinischer Versorgung zu tun. Im Globalen Süden führt die höhere Armutsrate und – im Zusammenhang damit – der schlechtere Zugang zu medizinischer Versorgung – auch zu Behinderungen, die im Norden nicht entstehen oder durch medizinische Hilfe ausgeglichen werden könnten. Gleichzeitig ist der Globale Süden auch stärker von den Auswirkungen des Klimawandels wie Hitzewellen betroffen.

UN Report zeigt größere Verletzlichkeit im Zusammenhang mit Behinderung

Die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen hat die globale Situation von Menschen mit Behinderungen im Kontext des Klimawandels analysiert und die Ergebnisse 2020 veröffentlicht. Der Report zeigt:

  • Der Klimawandel wird Essensknappheit in ärmeren Weltregionen erzeugen oder verstärken. Dort sind Menschen mit Behinderungen stärker von Armut und daher auch von den Engpässen betroffen.
  • Während Katastrophen ist es für mobilitätseingeschränkte Menschen schwieriger, sichere Zonen und Rückzugsräume zu erreichen.
  • Informationen über den Klimawandel und über Reaktionsmöglichkeiten wie Notfallpläne sind oft nicht barrierefrei verfügbar, zum Beispiel in einfacher Sprache.
  • Die Auswirkungen des Klimawandels lösen immer mehr Fluchtbewegungen aus. Flucht ist jedoch für viele Menschen aufgrund einer Behinderung schwerer zu realisieren – bis hin zum Risiko, in einer von Katastrophen betroffenen Region zurückgelassen zu werden.
  • Auch das Wiederankommen in einer neuen Region, einem neuen Land ist herausfordernder, wenn man auf Unterstützung wie Assistenz oder auf barrierefreien Wohnraum angewiesen ist.

Was die UN-Studie beschreibt, ist nicht so weit von Deutschland entfernt, wie es auf den ersten Blick wirken mag. Denken wir an die Ahrtal-Katastrophe 2021: Hier starben 12 Bewohner:innen eines Wohnheims, die ohne unterstützendes Personal im Haus von der Flut überrascht wurden. Aus Kostengründen stand in der Nacht nur eine Nachtwache für zwei Gebäude zur Verfügung und konnte die 12 Menschen nicht rechtzeitig erreichen.

Lesetipp

In unserem Blogbeitrag Der lange Weg aus Syrien in die Persönliche Assistenz in Berlin berichtet Ahmad A. von seiner Fluchtgeschichte und dem Neuanfang in Berlin.

Der Klimawandel, intersektional betrachtet

Klimawandel und Ableismus überschneiden sich. Das bedeutet, dass Menschen, die Ableismus erleben, auch gleichzeitig anfälliger für die direkten und indirekten Auswirkungen des Klimawandels sind. Je mehr eine Person marginalisiert wird, desto verwundbarer ist sie. Wenn also eine Person nicht nur Ableismus, sondern auch Rassismus und Queerfeindlichkeit erlebt, wird sie die Auswirkungen des Klimawandels noch stärker spüren.

Anonymer Beitrag zur Broschüre „VerRücktes Klima – BeHinderte Lösungen

Zu den Gründen für eine größere Verletzlichkeit durch die Auswirkungen des Klimawandels im Zusammenhang mit Behinderung zählen demnach nicht nur die höheren Risiken, die die UN-Studie beschreibt. Es geht auch um Überschneidungen mit anderen Merkmalen.

So sind sowohl queere als auch und behinderte Menschen stärker von Obdachlosigkeit bedroht als Menschen, die keines dieser Merkmale tragen. Dadurch können sie Starkwetterphänomenen stärker ausgesetzt sein. Auch ist die Sterberate von älteren Menschen, die einen großen Teil der Menschen mit Behinderungen ausmachen, bei Extremtemperaturen höher.

Quelle & Lesetipp zum Thema

Beitrag „Behindert durch die Klimakrise“ von SchwarzRund im Sammelband „VerRücktes Klima – BeHinderte Lösungen“

Was kann die Politik tun?

Die Politik hat zahlreiche Möglichkeiten, Inklusion bei der Klimapolitik mitzudenken. Und sie hat eine dementsprechend große Verantwortung. Auch Deutschland hat sich mit dem Pariser Klimaabkommen dazu verpflichtet, die Belange von Menschen mit Behinderungen bei der Klimapolitik zu berücksichtigen und passende, nicht diskriminierende Lösungen zu entwickeln.

Das sind erste Ansatzpunkte auf dem Weg zu einer inklusiven Klimapolitik:

  • Auf allen Ebenen des Klimaschutzes Behinderung als Kategorie mitdenken
  • Informationsangebot über die Klimakrise, Reaktionsmöglichkeiten und Notfallversorgung für alle bereitstellen, beispielsweise in leichter Sprache, in Braille-Schrift, auf Veranstaltungen in Gebärdensprache
  • Öffentlichkeitsarbeit, um die Sensibilität für das Thema in der Bevölkerung zu erhöhen
  • Pläne, Normen und Strategien müssen immer Lösungen für Menschen mit Behinderungen beinhalten, die auch ausreichend finanziert sind
  • Menschen mit Behinderungen und ihre Selbstvertretungsorganisationen aus allen Ebenen einbeziehen, wenn Entscheidungen getroffen werden

Der Hohe Kommissar für Menschenrechte der Vereinten Nationen findet klare Worte:

Ein menschenrechtsbasierter Ansatz zur Bekämpfung des Klimawandels, der Menschen mit Behinderungen einbezieht, bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen in allen Phasen des Klimawandels einbezogen und berücksichtigt werden. Wirksame Maßnahmen zum Klimawandel können nur dann erfolgreich sein, wenn die gesamte Gesellschaft daran mitwirkt. Ein solcher Ansatz bedeutet, dass Menschenrechte und Behinderung vollständig in die Klimamaßnahmen integriert werden.

Hoher Kommissar für Menschenrechte der Vereinten Nationen (übers.)
Studie zu Rechten von Menschen mit Behinderungen im Kontext des Klimawandels

Wie weiter? Lösungen zum Thema Klimawandel und Inklusion können nicht nur aus der Politik kommen, und nicht nur sie trägt Verantwortung. In kommenden Beiträgen wird es auch um die Klimabewegung gehen – und um neue Wege der Soziale Arbeit wie „Green Social Work“.

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