H. Schnittker kämpfte über Jahre darum, die für ihn dringend benötigte Unterstützung im Alltag zu erhalten: Betreutes Einzelwohnen und Persönliche Assistenz. Trotz eindeutiger Bedarfe führten bürokratische Hürden, fragwürdige Gutachten und widersprüchliche Entscheidungen zu langen Rechtsstreitigkeiten. Seine Geschichte zeigt, wie belastend und zermürbend es sein kann, Rechte auf Hilfe durchzusetzen – und wie stark persönliche Schicksale manchmal von den Strukturen des Sozialhilfesystems geprägt werden.
Im ersten Teil dieser Reihe haben wir H. Schnittker als Person kennengelernt und seinen langen, oft mühsamen Weg zur Beschaffung wichtiger Hilfsmittel verfolgt. Seine Erkrankung und die damit verbundenen Einschränkungen prägen seinen Alltag tiefgreifend. Doch die Versorgung mit Hilfsmitteln ist nur ein Teil seiner Geschichte. Im zweiten Teil geht es nun um den noch schwierigeren Kampf um Betreutes Einzelwohnen (BEW). Auch dabei kommen neben Schnittker selbst wieder der Sozialpädagoge Peter Nies und Andreas Wolter, Geschäftsführer von Phönix – Soziale Dienste, zu Wort. Beide haben Schnittker jahrelang bei diesen Auseinandersetzungen begleitet.
„Mein Streit mit dem Bezirksamt“ – der lange Weg zur Alltagsunterstützung
„Da musste ich um alles kämpfen“, beginnt Schnittker eine Erzählung über die Schwierigkeiten, die passende Hilfe (weiter-)finanziert zu bekommen. Mehrere Widerspruchs- und Gerichtsverfahren zogen sich über Jahre. Dabei ging es sowohl um Persönliche Assistenz als auch um das Betreute Einzelwohnen, also die sozialpädagogische Unterstützung.
Gehen wir ein paar Jahre zurück: H. Schnittker zog nach Berlin, trennte sich, wohnte nun allein in einer sehr barrierereichen Altbauwohnung. Seine chronische Erkrankung, Spinozerebelläre Ataxie, schritt fort. Ihm fehlten die passenden Hilfsmittel und Ärzt:innen, dafür hatte er inzwischen hohe Schulden angesammelt, während sich sein gesundheitlicher Zustand verschlechterte. Seine alte Lebensstruktur wurde ihm nicht mehr gerecht.
Als er sich 2013 Unterstützung suchte, klappte es problemlos mit dem BEW-Antrag. Kollege Nies und ich – damals noch als Heilpädagogin bei Phönix tätig – ‚legten los‘: Wir unterstützen Schnittker bei der Wohnungssuche, bei der Organisation des Umzugs, der Beantragung von Hilfsmitteln, dem Finden von Ärzten, dem Abbau der Schulden und vielem mehr. Er wusste immer, was er will, und setzte sich dafür ein. Von Jahr zu Jahr wurde eine Verlängerung der Unterstützung beantragt und auch gewährt. Das ist für viele Menschen mit einer fortschreitenden Erkrankung der Fall, weil sich im Alltag immer wieder neue Herausforderungen stellen und Prozesse langfristig begleitet werden müssen. Bis 2020 ein Antrag abgelehnt wurde und die Hilfe plötzlich enden sollte.
Verstörende Besuche des Bezirksamts und ein experimentelles Gutachten
In dieser Zeit fanden mehrere Besuche des Bezirksamts bei Schnittker statt, da sowohl über das BEW als auch über die Persönliche Assistenz entschieden werden sollte. Er erzählt von einer nicht angekündigten Begutachtung: „Die kamen mit drei Mann hier rein und sagten, ich bekomme keine Unterstützung für die Assistenz. Sie haben mich nicht untersucht, gar nichts.“
Ein weiterer Besuch des Bezirksamts wurde hingegen angekündigt, sodass Nies begleitend dabei sein konnte. Nun ging es um die Weiterbewilligung der sozialpädagogischen Unterstützung, also des BEWs. Nies erinnert sich: „Die haben Herrn Schnittker bei der Begutachtung unter Druck gesetzt, massiv übernachgefragt. Er war deutlich überfordert und wusste irgendwann kaum noch, was er erzählt.“
H. Schnittker
Der Ablehnungsbescheid, der auf diese Situation folgte, kam wie üblich mit einem Gutachten des Bezirksamts – über die Lebenssituation, die selbstständige Lebensführung, den Bedarf des Antragstellers. Solche Gutachten werden normalerweise an einem standardisierten Formular, einem Schema orientiert geschrieben. Nicht so in diesem Fall: Das Berliner Bezirksamt wollte zu dieser Zeit ein eigenes Format entwickeln und beschrieb Schnittkers Lebenssituation in dieser experimentellen Form. Wie Wolter berichtet, gab es für dieses „Pseudogutachten“, dass der Redaktion neben anderen Dokumenten vorliegt, keine Zulassung.
Darin ist zu lesen, dass die sozialpädagogische Begleitung während dieser Zeit nicht viel zu tun hatte: Eigentlich würde nur Post gemeinsam beantwortet, wofür aber der gesetzliche Betreuer verantwortlich sei. Den Schnittker jedoch gar nicht hat, da er seine Angelegenheiten selbst regelt – mit sozialpädagogischer Unterstützung. Glaubt man dem Text, lebte Schnittker damals unabhängig und die BEW-Termine glichen Kaffeepausen unter Freund:innen:
Es besteht auch eine enge Bindung zwischen Herrn Nies und dem Antragsteller. […] Durch die selbstständige Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel und sozialen Netzwerke und Nutzung des Internets besteht keine Veranlassung für die Begleitung durch einen Sozialpädagogen.
Und so geht es weiter im Text: Wie dort zu lesen ist, traf sich Schnittker regelmäßig ohne Unterstützung mit Bekannten und besuchte Veranstaltungen. Außerdem würde seine langsame, verwaschene Sprechweise auf das Cannabisrauchen zurückzuführen sein. Dass diese Art des Sprechens ein bekanntes Symptom seiner Erkrankung ist, findet keine Beachtung.
Nies berichtet rückblickend, wie Schnittkers Leben während dieser Zeit aussah:
Er konnte allein noch mit seinem Hund vor die Tür, das war aber im Grunde alles. Ansonsten hatte er damals auch deutliche Rückzugstendenzen. Mit mir zusammen ist er manchmal noch zu einem Konzert gefahren. Das war ihm wichtig und ohne das BEW hätte er es nicht gemacht. Ich habe das Bezirksamt auch mehrmals darauf hingewiesen, dass sich der Krankheitsverlauf weiter verschlechtern wird. Jetzt davon auszugehen, er würde Partys feiern, wäre super integriert und bräuchte die Hilfe nicht mehr … ich fand das sehr, sehr ungerecht, einem so schwer erkrankten Mann den Bedarf abzusprechen.
Das Betreute Einzelwohnen geht trotzdem weiter– weil der Klient es braucht
Die Mitarbeiter:innen des Bezirksamts hatten einen negativen Eindruck von H. Schnittker – den eines fitten Kiffers, scheint es, der sich Leistungen erschleichen wollte. „Damit war die Messe schon gesungen“, erinnert sich Wolter. Der Bedarf aber blieb bestehen – allein die umfangreichen bürokratischen Vorgänge waren für ihn nicht zu bewältigen. Daher setzte Phönix als Leistungserbringer das BEW fort, berichtet Nies: „Wir haben einfach gesagt, wir machen trotzdem weiter, weil er ohne BEW, auch wenn es nur einmal die Woche ist, nicht zurechtkommen wird.“
Mit Unterstützung von Phönix legte Schnittker beim Bezirksamt Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid ein. Umfangreich wurde seine Lebenssituation nun aus seiner Perspektive dargelegt, sein Bedarf erläutert, sein Gesundheitszustand erklärt. Ohne Erfolg – das Amt glaubt ihm nicht und lehnt auch den Widerspruch ab. Besonders perfide: Dazu wurde sogar der soziale Behinderungsbegriff eingesetzt. Eigentlich soll dieser dazu dienen, den Blick von körperlichen Behinderungen weg und auf gesellschaftliche Barrieren zu richten – um zu zeigen, wie sich die Gesellschaft verändern muss. Im Bescheid wird er jedoch genutzt, um Schnittker Hilfe vorzuenthalten:
Danach ist eine Behinderung […] nicht allein ein medizinischer, sondern auch ein sozialer Begriff. Entscheidend ist nicht allein ein regelwidriger Körper- oder Gesundheitszustand, daneben kommt es auf die wahrscheinliche Hinderung an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft an […]. Die wesentlichen Lebensbereiche sind Selbstversorgung und Mobilität, Haushaltsführung, Orientierung und Kommunikation sowie das Sozialverhalten […]. In diesen Lebensbereichen konnte bei Ihnen keine wesentliche Teilhabebeeinträchtigung festgestellt werden. Sie sind in der Lage, vollständig im Rahmen Ihrer Wünsche und Erfordernisse am Leben in der Gemeinschaft teilzunehmen.
Daraufhin blieb nur noch der Weg der Klage, um die notwendige Unterstützung zu erhalten.
P. Nies, Sozialpädagoge
Das Gerichtsverfahren: „ein Ping-Pong-Spiel, in dem jeder das letzte Wort haben wollte“
Mit Phönix als Leistungserbringer und einer Rechtsanwaltskanzlei reichte Schnittker nun Klage ein. Erklärte sich erneut. Die Kanzlei fasste alle Berichte und Zeugnisse der Beteiligten zusammen. „Der Beklagte stellt die Situation des Klägers grundlegend falsch dar“, heißt es in einer Stellungnahme des Anwalts, „er versucht, das Bild eines gut integrierten, aktiven Menschen mit Behinderung zu zeichnen […]. Dies trifft nicht zu.“ Im Laufe des Verfahrens wurde durch Phönix noch ein weiterer Experte hinzugezogen, der ebenfalls ein Gutachten erstellt und vor Gericht ausgesagt hat.
Nach scheinbar endlosen Gesprächen und Schriftverkehr entschied das Sozialgericht zu Schnittkers Gunsten – das Bezirksamt aber weigerte sich, zu zahlen. Schließlich kam es zu einem Vergleich, in dem das Amt dazu verpflichtet wurde, immerhin dreiviertel des durch Phönix vorgestreckten Betrags rückzuerstatten. Über dieses, wie Nies sagt, „Ping-Pong-Spiel, in dem jeder das letzte Wort haben wollte“, vergingen vier Jahre.
In dieser Zeit passierten zwei weitere Dinge. Erstens übernahm Phönix auch die Persönliche Assistenz Schnittkers – ebenfalls zunächst in Vorkasse, weil auch diesem Antrag erst nach langem Rechtsstreit stattgegeben wurde. Zweitens wechselte – aus Gründen bürokratischer Umstellungsprozesse – die Zuständigkeit für die Versorgung Schnittkers zum Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo). „Jetzt wurden die Karten noch mal neu gemischt“, blickt Nies zurück. Das LAGeSo bewilligte den BEW-Antrag für das anstehende Jahr nämlich ohne Probleme.
Wie konnte es so weit kommen?
Laufende Leistungen werden plötzlich nicht mehr gewährt, obwohl sich der Gesundheitszustand der betroffenen Person verschlechtert und der Bedarf bestehen bleibt. Krankheitssymptome werden einem Drogenkonsum zugeschrieben. Ein Antragsteller wird in Begutachtungssituationen unter Druck gesetzt, ohne seine körperliche und psychische Belastung durch die Lebenssituation, die Krankheit und die eingenommenen Medikamente zu beachten. Es werden Falschangaben gemacht. Das Bezirksamt beschuldigt im Prozess sowohl Schnittker als auch den Leistungserbringer und den Anwalt mehr oder weniger direkt des Betrugs. Schließlich bewilligt eine andere Behörde auf derselben Grundlage die Leistung problemlos. Wie konnte es so weit kommen?
Rechtfertigen lässt sich das Verhalten des Bezirksamts nicht. Aber vielleicht verstehen? Wolter meint:
Ich glaube, die Sozialbehörden haben ein schwieriges Klientel und sind massiv unterbesetzt. Vielleicht treffen sie oft auf Menschen, die Sozialleistungen anspruchsvoll einfordern, sodass man vielleicht auch an der einen oder anderen Stelle kritisch sein könnte. Ich kann mir vorstellen, dass die Sachbearbeiter:innen in einer Bezirks-Bubble stecken – was sie hier aber überhaupt nicht entschuldigen soll.
Wie Wolter berichtet, geht er seinen Angelegenheiten immer selbstbewusst nach. Auch Schnittker selbst beschreibt sich so. Er fuhr im Prozess also auch mal zum Bezirksamt, um zu erklären, was er brauchte.
„Wenn man Herrn Schnittker im Verfahren überhaupt irgendetwas vorwerfen dürfte,“, holt Wolter aus und stellt sich klar auf die Seite seines Klienten, „ist es, dass er einfach nicht sympathisch rübergekommen ist. Der ist keiner, wo jede:r emotional verfängt, gleich Mitleid hat und ihm wünscht, er könne mal mit der Assistenz ins Kino gehen“. Sprich: Schnittker hat ein bestimmtes Bild erfüllt, das die Behörde schon für ihn vorbereitet hatte. Und ein anderes nicht.
Ein langer Weg mit vielen Erfolgen: Schnittkers heutiger Alltag
Schnittkers Geschichte ist eine der Herausforderungen, der Hürden. Viele davon sind inzwischen bewältigt und tragen dazu bei, seine Lebenssituation so stabil wie möglich zu gestalten. Er wohnt noch immer in seiner barrierefreien Wohnung in Berlin-Wedding. Weiterhin wird er sozialpädagogisch unterstützt, wenn auch inzwischen von anderen Mitarbeiter:innen. Seine Erkrankung ist weiter fortgeschritten. Bewegungen und Sprechen fallen ihm schwerer und er verbringt mehr Zeit im Pflegebett. Unverändert genießt er die Zeit mit seinem Assistenzhund, wobei inzwischen eine Familie aus der Nachbarschaft bei der Haltung unterstützt.
Und er erhält inzwischen die notwendige Unterstützung im Alltag: 24-Stunden-Assistenz. „Herr Schnittker hat ein ganz tolles Team um sich herum“, berichtet Nies, „das er gut annehmen kann und das ihn gut annimmt mit seiner Art und Weise. Das war ein langer Weg. Aber jetzt ist es sehr herzlich.“ Inzwischen gestaltet er trotz der fortgeschrittenen Erkrankung und aller Herausforderungen, die das mit sich bringt, sein Leben wieder aktiver mit den Assistenzkräften und geht beispielsweise ab und zu in Begleitung in die Disco.
Er wünscht sich, ein Buch zu schreiben, in dem er Anekdoten aus seinem Leben erzählt. Und von seinem Kampf mit den Behörden berichtet.
Die Moral der Geschichte: Ungerechtigkeit und Wartefleisch
Ich frage meine Gesprächspartner nach einem Fazit. Gibt es eine Botschaft, die sie mitnehmen aus dieser epischen Streitgeschichte mit dem Hilfssystem? „Auf Behördenseite gibt es kein Fazit“, meint Wolter, „da gibt es einfach nur die Ungerechtigkeit.“ Für Wolter ist es „eigentlich eine Geschichte der unglücklichen Konstellation von gesundem Selbstbewusstsein auf beiden Seiten. Aber auf der Seite des Bezirksamts ging es überhaupt nicht mehr um Herrn Schnittker, sondern um Prinzipien.“
Die Erfahrungen von und mit Schnittker waren aus Sicht von Phönix extrem. Aber Wolter erlebt Ähnliches häufiger: „In vielen Begutachtungen kommen Leute mit einem bestimmten Bild davon, was angemessen ist und was nicht. Das wird sofort in einen sozialen Kontext gestellt.“ Einen sozialen Kontext, der darüber entscheidet, wer seinen Alltag selbstbestimmt gestalten darf und wer nicht.
Und Schnittker? „Die Moral der Geschichte ist: Du musst Wartefleisch haben.“ Er hat auch einen Rat für Menschen in ähnlichen Situationen:
Man darf sich nicht unterkriegen lassen. Du kannst immer sagen: Nein, stopp.
Ich frage ihn, ob es etwas oder jemanden in seinem Leben gibt, der ihn im Prozess besonders unterstützt hat, ihm hilft. „Klar,“ sagt er, „Cannabis.“ Zwar rauche er nicht viel, aber: „Das nimmt mir meine Grenzen. Macht mir das Leben einfach leichter.“
Der erfolgreiche Abschluss der Klageverfahren ist auch dem großen persönlichen Engagement des Anbieters des BEWs und der Assistenz zu verdanken – einschließlich finanzieller Vorleistungen. Eine solche Unterstützung steht nur wenigen Menschen in vergleichbaren Situationen zur Verfügung. Für Schnittker steht jedoch nicht im Vordergrund, wer ihn auf diesem Weg begleitet hat – sondern dass er diesen Weg überhaupt gehen konnte. Die kontinuierliche Unterstützung durch das BEW-Team, die Assistenzkräfte und den Geschäftsführer Wolter begreift er als selbstverständlichen Teil seines selbstbestimmten Lebens. Wie auch die Entscheidungen des Gerichts gezeigt haben, sind BEW und Assistenz nämlich genau das: sein Recht.
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Das Beitragsbild wurde mittels Künstlicher Intelligenz (ChatGPT) generiert.