Die BVG ist das Rückgrat der Berliner Mobilität, doch der gesetzlich vorgeschriebene barrierefreie Zugang für alle bleibt eine Herausforderung. Obwohl seit 2022 verpflichtend, ist die vollständige Barrierefreiheit im ÖPNV noch nicht erreicht. Dieser Beitrag beleuchtet die notwendigen Veränderungen bei der BVG und in unserem täglichen Miteinander, um eine inklusive Mobilität in Berlin zu verwirklichen. Von technischen Anpassungen über ein klares Beschwerdemanagement bis hin zu gesellschaftlichem Umdenken – wir zeigen auf, wie der Weg zu einem ÖPNV für alle aussehen kann.

Lesetipps

Dieser Artikel gehört zu einer Reihe von drei Beiträgen über den Berliner ÖPNV auf Berl[in]klusiv. Sie können in einer beliebigen Reihenfolge gelesen werden. Hier findest Du die anderen beiden:

Die BVG auf dem Weg zur Barrierefreiheit: Stand der Dinge

Online informiert die BVG über Möglichkeiten barrierefreier Mobilität in Berlin und über ihre Anstrengungen, Barrieren im hiesigen ÖPNV abzubauen. Demnach sieht es aktuell so aus:

  • 85% der Bahnhöfe sind stufenlos zu erreichen, soweit die Aufzüge funktionieren
  • Von 825 Straßenbahnhaltestellen sind ca. 595 barrierefrei
  • Die U-Bahnen werden nach und nach ausgetauscht. Derzeit sind zu etwa 45% Bahnen der neuen Generation im Einsatz, bei denen der Einstieg mit Rollstuhl, Rollator oder Kinderwagen ohne Rampe möglich ist. Diese sind unterschiedlich und ungleichmäßig auf verschiedene Linien und Zeiten verteilt.

Bei den Bushaltestellen ist die Situation anders. Wie die Senatsverwaltung für Mobilität gegenüber der taz angab, sind aktuell erst 10% barrierefrei ausgebaut. An den anderen 90% dient weiterhin die Rampe zum Einstieg, die das Fahrpersonal des Busses ausklappen muss. Das hat unter anderem mit der Höhe der Bordsteine an den Haltestellen zu tun.

Auch hakt es bei der BVG-App, wie Anfang November 2024 die Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen Christine Braunert-Rümenapf kritisierte: „Mängel gibt es unter anderem bei den Alternativtexten, den Kontrasten und der Sprachausgabe“, erklärte sie gegenüber dem Senat. Die BVG nahm diese Kritik an und will die Probleme bis Anfang 2025 beheben.

In vieler Hinsicht ist die BVG also auf dem Weg zu mehr Barrierefreiheit. Aber wie lange dauert es, bis dieses Ziel erreicht wird?

Barrierefreiheit im Dickicht der Deadlines und Verantwortlichkeiten

Der Nahverkehrsplan hat die Belange der in ihrer Mobilität oder sensorisch eingeschränkten Menschen mit dem Ziel zu berücksichtigen, für die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs bis zum 1. Januar 2022 eine vollständige Barrierefreiheit zu erreichen.

Barrierefreiheit im Personenbeförderungsgesetz (PBefG)

“Der Nahverkehrsplan hat die Belange der in ihrer Mobilität oder sensorisch eingeschränkten Menschen mit dem Ziel zu berücksichtigen, für die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs bis zum 1. Januar 2022 eine vollständige Barrierefreiheit zu erreichen.” (Quelle: Gesetze im Internet)

Barrierefreier Nahverkehr bis 2022 – so steht es also bereits seit 2013 im Gesetz. Von diesem Ziel ist der ÖPNV in Deutschland aber insgesamt noch weit entfernt, stellt auch Aktion Mensch fest – und nennt verschiedene Gründe:

  • Wenig Verbindlichkeit und viele mögliche Ausnahmen im Gesetzestext
  • Fehlende finanzielle Ressourcen der Kommunen
  • Zu wenig Verwaltungspersonal für den Umbau
  • Mangelnder Einbezug Betroffener

In Berlin sind vielfältige Problemlagen bekannt, bestätigte Verkehrssenatorin Ute Bonde (CDU) der Taz. Aus ihrer Perspektive liegt die Verantwortung aktuell vor allem bei den Bezirken – die müssten sich über die Umsetzung von Maßnahmen besser abstimmen. Die Bezirke wiederum müssen aktuell sogar mit neuen finanziellen Kürzungen umgehen – schwer zu sagen, wo es in der Verwaltung hakt.

Offiziell geht die BVG davon aus, bis Anfang der 2030er-Jahre in allen Bereichen barrierefreien Nahverkehr anbieten zu können. Für Braunert-Rümenapf ist diese Verzögerung ein klarer Gesetzesverstoß, der jedoch ohne Konsequenzen bleibt. Dabei bezieht sie sich auch auf das Benachteiligungsverbot im Grundgesetz und auf die UN-Behindertenrechtskonvention.

Was heißt eigentlich barrierefrei?

 

Barrierefrei ist etwas, dass ich ohne fremde Hilfe benutzen kann. Das kann ich ja nicht in dem Moment. Ein Bus mit Klapprampe ist per Definition nicht barrierefrei.

Alexander Ahrens

Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben

Das sagt Alexander Ahrens über die Notwendigkeit, eine Rampe zur Fahrt mit dem Bus zu nutzen. Er ist Pressesprecher der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben e.V. und selbst mit einem Rollstuhl in Berlin unterwegs. Laut dem Behindertengleichstellungsgesetz ist eine Vorrichtung, zu deren Nutzung fremde Hilfe nötig ist, in der Tat nicht barrierefrei:

Barrierefreiheit im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG)

“Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind.” (Quelle: Gesetze im Internet)

Ein Bus oder eine U-Bahn mit einer Rampe, die durch das Fahrpersonal ausgeklappt wird, entspricht demnach nicht den gesetzlichen Anforderungen für Barrierefreiheit.

Vor allem Busse sind für viele Menschen im Rollstuhl wichtig

Dass gerade Busse in Berlin meist noch nicht barrierefrei nutzbar sind, ist keine Lappalie. Gerade Busse spielen in der Großstadt eine große Rolle, berichtet Ahrens weiter.

Der Bus ist bei rollstuhlfahrenden Menschen sehr beliebt, weil er mich meistens genau dahin bringt, wo ich hin will. Ich brauche oft ja gar nicht weite Wege zu meiner Haustür und muss nicht gucken, ist der Aufzug kaputt oder nicht.

Und es gibt sogar Personal, mit dem man immer im Gespräch sein kann. Das ist ein viel näheres Verhältnis als zum Beispiel in der U-Bahn. Gerade nachts, wenn man sich vielleicht alleine unsicher fühlt. Leute mit einem starken Unterstützungsbedarf haben das Gefühl, da ist noch jemand, der mir im Notfall helfen kann.

 

Alexander Ahrens

Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben

Die Unabhängigkeit von Aufzügen und die persönliche Ansprechbarkeit unterscheiden den Bus von anderen viel genutzten BVG-Verkehrsmitteln wie der U-Bahn. Sie machen ihn als Teil des Nahverkehrs besonders wichtig.

Viele diskriminierende Vorfälle in Bussen – woran liegt das?

Dennoch kommt es hier – von der an sich problematischen Situation mit der Rampe abgesehen – oft zu Diskriminierungen. Wie wir in einem anderen Artikel berichtet haben, erleben viele Menschen im Rollstuhl, dass Busse an ihnen vorbeifahren oder Rollstuhlplätze nicht freigemacht werden.

Die „Vorbeifahrt“ an einer Haltestelle, an der jemand im Rollstuhl wartet, ist diskriminierendes Verhalten der:s jeweilgen Busfahrer:in. Hinter der Einzelperson stehen aber auch Strukturen, welche die Diskriminierung ermöglichen oder zumindest nicht verhindern. So argumentiert Felix Haßelmann von der LADG-Ombudsstelle Berlin, die bei Diskriminierung durch öffentliche Einrichtungen berät:

Auftrag der BVG ist es, eine barrierefreie Beförderung im Rahmen des ÖPNV zu gewährleisten. So ist es auch die Aufgabe der Busfahrer:innen, diesen Auftrag umzusetzen. Zugleich müssen wir uns natürlich anschauen, welche strukturellen Bedingungen es einer:m Busfahrer:in in diesem Moment erschweren, anders zu handeln. Eine dieser Bedingungen ist sicherlich Stress, bedingt durch Zeit- und Handlungsdruck.

Felix Haßelmann

LADG-Ombudsstelle Berlin

BVG: Wie kann eine barrierefreie Zukunft aussehen? Erste Schritte und Zukunftsmusik

Es geht also bei Diskriminierung nicht nur um die Individuen, sondern auch um die Strukturen. Welche Strukturen sind das, und was kann und soll sich daran ändern?

„Die Hektik rausnehmen“ – mehr Fahrzeuge und mehr Personal

Dieser Punkt klingt fast zu offensichtlich, um wahr zu sein. Aber eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und gleichzeitig des Angebots der BVG – und genau das bedeutet eine verbesserte Taktung – würde für Fahrgäste und Personal vieles verbessern.

Fahrer:innen bei der BVG arbeiten oft unter einem erheblichen zeitlichen Druck. Das entschuldigt diskriminierendes Verhalten nicht. Der so erzeugte Stress kann aber dazu beitragen, dass sie sich nicht die Zeit nehmen, anzuhalten, eine Rampe auszuklappen und freundlich mit Fahrgäst:innen zu sprechen.

Die Erhöhung der Taktung, das heißt der Einsatz zusätzlicher Busse und zusätzlichen Personals, ist daher ein wichtiger Ansatzpunkt für Veränderungen.

Ahrens spricht sich für eine Entlastung des Fahrpersonals aus:

Das ist ein wahnsinnig stressiger Job, vor dem ich auch Respekt habe. Ich glaube, wir müssen diese Hektik aus Berlin rausnehmen.

Alexander Ahrens

Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben

Ein transparentes und konsequentes Beschwerdemanagement

Wer bei Fahrten mit Bus, Bahn und Tram Diskriminierung erlebt, hat mehrere Möglichkeiten, zu reagieren. Darüber haben wir in unserem letzten Beitrag berichtet. Unter anderem verfügt die BVG selbst über ein Beschwerdemanagement.

Von außen ist jedoch nicht leicht nachzuvollziehen, wie dieses System aussieht und wie Beschwerden dort bearbeitet werden. Das berichtet Ahrens aus eigener Erfahrung:

Gerade wenn man Vorfälle zum Thema Barrierefreiheit und Menschen mit Behinderung berichtet, dann meldet sich immer eine bestimme Person zurück. Man weiß aber auch zum Beispiel nicht, in welcher Abteilung sie arbeitet.

Alexander Ahrens

Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben

Berl[in]klusiv hat die BVG dazu gefragt und den Aufbau des Beschwerdemanagements beschrieben. Ein wichtiger Schritt wäre nun, diese Informationen auf den eigenen Kanälen der BVG transparent zu kommunizieren.

Darüber hinaus stellt sich die Frage: Was geschieht, nachdem eine Beschwerde angenommen wurde?

Sie sagen halt immer, sie hätten mit dem Personal gesprochen. Tut ihnen leid, aber mehr irgendwie auch nicht. Wirklich mal entschuldigen und zugeben, dass ich recht habe, oder das ich Recht bekomme, das habe ich noch nie erlebt. Es wird nie gesagt, dass das Verhalten nicht richtig war. Stattdessen wird immer argumentiert, es sei vielleicht ein Missverständnis gewesen und man gelobt Besserung.

Alexander Ahrens

Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben

Diese Erfahrung wird durch einen Bericht der Senatsverwaltung unterstützt. Demzufolge sind im Jahr 2023 insgesamt 640 Beschwerden aufgrund von Diskriminierung bei der BVG eingegangen. Nach Einschätzung der BVG hat es sich in keinem der Fälle, die sie bislang bearbeitet hat, um Diskriminierung gehandelt.

Eine weitere Reaktionsmöglichkeit auf Diskriminierungserfahrungen im Berliner ÖPNV ist eine Meldung bei der LADG-Ombudsstelle in Berlin. Dort berichtet auch Haßelmann aus seiner Beratungserfahrung von einer „geballten Unzufriedenheit mit dem Beschwerdemanagement der BVG“. Was funktioniert, was nicht?

Es ist gut, dass es in unseren Verfahren durchaus Momente des Anerkennens und Entschuldigens für den Einzelfall gibt. Zugleich gibt es Verfahren, in denen die Stellungnahmen der BVG, der hierin vermittelte Wille zur Aufklärung und die aus dem Verfahren abgeleiteten Konsequenzen hinter den Erwartungen zurückbleiben. Hier sehen wir mit Blick auf eine gelebte Fehlerkultur Handlungsbedarf.

Felix Haßelmann

LADG-Ombudsstelle Berlin

Auch Ahrens fordert diese Verantwortlichkeit ein, und zwar systematisch: „Ich finde es wichtig, ein Entschädigungssystem einzuführen.“

BVG barrierefrei – auch hinterm Steuer?

1200 Menschen mit einer Behinderung arbeiten für die BVG, berichtete sie 2023 auf ihrer Website. Das Unternehmen setzt sich für Inklusion in den eigenen Räumen ein, berichtet auch Jens Breitenborn von der Schwerbehindertenvertretung der BVG: „Unser Ziel ist es, dass alle Belange der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Schwerbehinderung berücksichtigt werden.“

Die Beschäftigungsquote schwerbehinderter Menschen liegt bei der BVG bereits seit Jahren über dem bundesdeutschen Durchschnitt. Dafür hat das Unternehmen 2018 der Inklusionspreis des Landes Berlin erhalten.

Ein nächster Schritt kann darin bestehen, die Chancengleichheit auch hinterm Steuer der Fahrzeuge zu verbessern. Dafür spricht sich Ahrens aus:

einfach mal als Überlegung. Ich bin dafür, dass Menschen im Rollstuhl auch U- und S-Bahn-Fahrer*innen werden können. Im Moment sind die Arbeitsplätze in den U- und S-Bahnen nicht auf Menschen im Rollstuhl ausgelegt, man kommt nicht zum Führerstand rein – es gibt sehr enge Türen oder sogar eine Stufe beim Einstieg.

Alexander Ahrens

Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben

Hier fehlt also die richtige Technik, eine barrierefreie Bauweise. Das ist für die BVG noch Zukunftsmusik – aber eine sehr wichtige.

Was muss sich unter uns Fahrgäst:innen ändern?

„Der ÖPNV findet im gesellschaftlichen Leben statt“, meint Haßelmann. Was uns als Gesellschaft prägt, macht sich eben auch im ÖPNV bemerkbar.

Gesellschaftliche Spannung, gesellschaftliche Ignoranz und fehlende Sensibilisierung führen dazu, dass man sich oft auch nicht gegenseitig unterstützt.

Felix Haßelmann

LADG-Ombudsstelle Berlin

Wenn – wie wir berichtet haben  – Menschen im Rollstuhl nicht einsteigen können, weil die Rollstuhlplätze bereits von anderen Fahrgäst:innen besetzt sind, hat das mit den Einstiegsregeln der BVG zu tun. Verantwortlich sind aber genauso auch diejenigen, die die Plätze blockieren.

Auch dabei kann die BVG helfen, indem sie Fahrgäst:innen sensibilisiert. Im Mai 2024 testete sie beispielsweise Durchsagen wie „Bitte sei achtsam, vielleicht braucht jemand deinen Sitzplatz dringender“.

Insgesamt sind aber Fahrgäst:innen genauso in der Verantwortung wie das Fahrpersonal. Besonders in vollen Fahrzeugen sind wir alle gefordert, mehr Solidarität zu zeigen.

Auf beliebten Strecken sind oft zwei, drei Rollstühle im Bus, zwei Rollatoren und ein Kinderwagen. Im Endeffekt müssen wir alle so solidarisch miteinander umgehen, dass es irgendwie funktioniert.

Alexander Ahrens

Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben

Bilder (wenn nicht anders angegeben): Shutterstock